Blog, Creativity in the digital age, Everyday philosophy, Good Reads

Über die unsichtbare Architektur des Alltags: die Gewohnheit. Gretchen Rubin »Better than before«

5 min read

Ein bisschen nervig sind sie schon, die Selbstoptimierer. Und Gretchen Rubin ist sicherlich eine von ihnen. Aber »Better than before« ist faszinierend. Weil man selten ein so gut beobachtetes und recherchiertes, strukturiertes und erzählerisches Buch über die »unsichtbare Architektur des Alltags« – so nennt sie unsere Gewohnheiten – in die Finger bekommt. Und weil mich Bücher mit einem konkreten Alltagsbezug und einer guten Portion Alltagsweisheit immer interessieren. Auf Gretchen gekommen bin ich durch meinen Lieblings-Podcast »Design Matters« von Debbie Millman, in dem sie ihre Besessenheit so erklärt: »I’ve always been attracted to everything that is a system.« Der Detaillierungsgrad, mit dem sie sich mit dem Thema Gewohnheiten auseinandersetzt, grenzt an Verrücktheit, zumindest steckt ein echt nerdiger Geist dahinter.

Was hat denn Gewohnheit mit Kreatvität zu tun?

Mich interessiert das Thema Gewohnheit vor allem wie immer aus der Warte der Kreativität. Denn auch diese entspringt nicht, wie der Mythos besagt, aus einem plötzlichen Geistesblitz, der unversehens auf den Künstler darniederkommt. Sondern hat viel zu tun mit Ritual, Gewohnheit und verdammt viel – Arbeit. Gretchen verrät zum Beispiel im Buch viel über ihre Schreibgewohnheiten als Autorin, im Hinblick auf Regelmäßigkeit: »For me, the more regular and frequent the work, the more creative I am – and the most I enjoy it – so I write every single day, including weekends, holidays, and vacations.«. Oder im Hinblick auf Konzentration: »When I want to do original writing – my most intellectually demanding work – I go to the library or to a coffee shop, where I don’t connect to the Internet. This habit protects me from the pull of email, the web, and household tasks and forces me to do nothing but write. I decide ‘I’ll stay in the library for two hours’, and then I’m stuck. I end up writing just to pass the time.«

Apropos Schreiben: Ebenfalls bemerkenswert finde ich die Machart des Buches, die extrem gekonnt und süffig aus einer Mischung aus Struktur und Story besteht. Eigentlich beschreibt sie ihren Erkenntnisgewinn als eine Reise: »Slowly, as my research proceeded, my ideas about habits began to take a more coherent shape.«

Die Basis ist die Persönlichkeit

Die Botschaft des Buches ist, dass jeder, der – statt mit Disziplin und Selbstbeherrschung – die Programmiersprache der Gewohnheiten beherrscht, den Alltag und somit auch sich selbst beherrscht. Um sich zu verändern, besser zu werden, gesünder, schlanker, klüger, glücklicher etc.. Vor allem letzteres ist neben den Gewohnheiten ebenfalls Gretchens Spezialgebiet, durch ihr vorhergehendes Buch, »The Happiness Project«, ebenfalls ein New York Times Bestseller. Um sich selbst per Gewohnheit zu programmieren, muss man nur über sich selbst wissen, welche Persönlichkeitsstruktur man besitzt. Diese leitet sie auch gleich zu Beginn des Buches her, unter dem Label »the four fateful tendencies«: den Upholder, den Obliger, den Questioner und den Rebel. Ganz interessant ist dieser Ansatz, den sie vor allem daran festmacht, wie unterschiedliche Persönlichkeiten mit ihren eigenen, inneren und von anderen an sie gerichteten, äußeren Erwartungshaltungen umgehen.

Auch eines meiner eigenen Kinder habe ich darin wiederentdeckt: Tino, den Rebellen. Über den Umgang mit Rebellen sagt sie etwas sehr kluges: »The best way to wrangle the Rebel child is to give the kid the information to make a decision, present the issue as question that he alone can answer, and let him make a decision and act without telling you. Let him make a decision without an audience. Audiences = expectations. If he thinks you’re not watching, he won’t need to rebel against your expectations.«

Es leben die Unterschiede

Sie sagt auch, dass es wichtig ist, die Unterschiede zwischen den Charakteren zu kennen. Was für den einen funktioniert, funktioniert noch lange nicht für den anderen. Klassiker dabei sind zum Beispiel Frühaufsteher versus Nachteule. Aber auch neue, nicht so oft bemühte Beispiele findet sie, zum Beispiel »Underbuyer vs. Overbuyer«, »Simplicity-Lover vs. Abundance Lover«, oder »Finisher vs. Opener«. Hierzu ein extrem lustiges Beispiel aus ihrer Ehe, bei dem ich aus mir unerfindlichen Gründen Tränen gelacht habe: »I’m a Finisher, Jamie is an Opener. The other day, I looked inside the kitchen cabinet and saw four bags of granola, all open. When I pointed this out to Jamie and demanded that he not open another bag until those were finished, he just laughed, and for the next few weeks, he amused himself by pretending to open more bags in front of me.«

Nicht nur der Umgang mit anderen, sondern vor allem, sich selbst zu kennen ist die wichtigste Grundvoraussetzung. »My first commandment is to ‚Be Gretchen’ – yet it’s very hard to know myself. I get so distracted by the way I wish I were, or the way I assume I am, that I lose sight of what’s actually true.«  

Von Zwischenzeiten, Übergängen und Ritualen

Ein ebenfalls sehr gut beobachtetes »Secret of adulthood« ist die Tatsache, dass man nicht nahtlos von einer Aufgabe in die nächste tauchen kann. Und doch macht man es vor allem im Tagesgeschäft immer wieder falsch, wie man an vollgepackten Terminkalendern sieht, in denen ein Termin lückenlos an den nächsten anschließt. Hier muss es Übergangsphasen geben, abschließende und auch eröffnende Rituale. Ich habe an mir selbst zum Beispiel oft beobachtet, dass ich, bevor ich eine neue Aufgabe beginne, immer erst aufräumen muss. Das trifft auf die Küche zu, bevor ich anfange zu kochen; aber auch auf den Desktop am Rechner, bevor ich z.B. ein neues Dokument anfange. Sie schreibt dazu: »We adults often expect ourselves to careen effortlessly from one activity to the next. I’m in the habit of writing a blog post every day, yet every day I have to gear up to start. Running activities too closely together makes me feel harried and irritable, and habits of transition help me to switch gears more calmly.« Andere Leute, die sie zitiert: »I drop my son off at school, then I buy myself a coffee and read celebrity gossip from 9:15 to 10:00, then I start to work.«. Oder: »When I was working on my daily writing habit, I didn’t think about writing, I thought about my prewriting ritual.«. Oder wieder ein Beispiel von Jamie: »Jamie has a transition habit when he comes home from work. He gives everyone a hello kiss, then disappears for twenty minutes or so. He changes out of his suit, sends one last round of emails, glances at a magazine, and he’s ready to join the family. Because I’m always eager to cross things off my to-do list, I often want to hit him with scheduling issues or chore requests as soon as I see him. Thinking about the importance of transitions made me realize that I should respect his habit and save my questions until he’d settled in.«

Freiheit und Kreativität

Meine zwischenzeitliche Genervtheit in Bezug auf das Buch hat vielleicht damit zu tun, dass ich ein »Upholder« bin, der sich gerade in Richtung eines »Questioners« entwickelt. Der also die erste Hälfte des Lebens diszipliniert und mit Begeisterung der Pflichterfüllung gewidmet und stets alle inneren und äußeren Erwartungen erfüllt hat: in der Ausbildung, in der Kindererziehung, im Job. Und der gerade die Freiheit für sich entdeckt, die jenseits der Pflichterfüllung, dem To-do-Listen schreiben und dem »alles-richtig-machen« liegt: Ich erlaube mir energetische und weniger energetische Phasen und gestehe mir Phasen der Schwäche zu. Ich liebe den Zufall, das Unvorgesehen und die permanente Veränderung. Ich liebe die Freiheit. Ich lasse nach vielen Jahren der Planungswut auch der Improvisation ihren Raum, um Kreativität zuzulassen.