Hoppla, nicht mehr nur einzelne Schwarze Schwäne, sondern gleich ganze Systemumwälzungen bestimmen unser Leben im Digitalzeitalter. t3n-Kolumnistin Julia Peglow aka jpeg beleuchtet in ihrem »diary of the digital age«: Digitalisierung herself!
Du kennst ja diese Fragen: Wo warst du am 11. September 2001? Wo warst du an dem Tag, als Lady Di starb? Als die Mauer fiel? Als JFK erschossen wurde oder der erste Mensch auf dem Mond landete? Das Typische an diesen Big Bang Days der Geschichte: Die Geschehnisse haben ein eindeutiges Datum, sie verändern die Welt mit einem Paukenschlag, liefern ikonografische Bilder in den Medien und graben sich tief in unsere kollektive Erinnerung ein. Diese einschneidenden Ereignisse typisiert der Autor Nassim Taleb als »Schwarze Schwäne«, die vermehrt auftreten in unserer zunehmend fragilen Welt, die seit der Moderne von menschengemachten, supervernetzten und globalisierten Systemen umspannt ist. Und dennoch einen sie uns in unserem Wirklichkeitsempfinden; immerhin haben wir sie gemeinsam erlebt, es ist fast so, als würden uns diese Schock-Ereignisse mal kurz wieder alle auf Null stellen oder unsere Gemeinschaft kalibrieren.
Doch vermehrt ist die Entwicklung der Menschheitsgeschichte durch einen anderen Typus Ereignis geprägt. Dieser markiert nicht einen einzelnen Einschnitt, sondern im Gegenteil, eine Periode, eine große Strömung, eine systemische, alles durchdringende Umwälzung. Ja, liebe digitalen Zeitgenoss:innen, das ist unser verdammt merkwürdiges Zeitgefühl: eine Pandemie, die sich in die Länge zieht wie Kaugummi, während wir seit zwei Jahren auf die Ups and Downs der Exponentialkurven starren; die Klimaerwärmung, die eine erschreckende Entwicklung beschreibt, die wir nur drehen können, wenn wir unsere Verhaltensweisen von Grund auf ändern. Und hey, auch die Digitalisierung fällt in diese Kategorie: Sie ist ja schließlich nicht Knall auf Fall passiert. Sondern ist seit etwa zwanzig Jahren unaufhörlich in unser Leben eingesickert, um, wie heute, jede Faser unseres Lebens, unseres Alltags, unserer Denkweise zu durchdringen.
Was eint uns? Und was spaltet uns?
Um die Sache noch verwirrender zu machen, besteht zwischen alle diesen Systemumwälzungen auch noch ein rätselhafter Zusammenhang: Ausgerechnet die Pandemie hat uns wie in einem riesigen Superexperiment vorgeführt, was flächendeckendes, klimaschonendes Verhalten in der Praxis bedeutet; hat bekanntlich auch die renitentesten Mittelständler in den digitalen Äther des Zoom-Calls katapultiert, und obendrein weist, wie um den Kreis zu schließen, das Virus die gleiche, globale Netzwerkwerkstruktur mit Knotenpunkten und exponentialen Verbreitungsgeschwindigkeiten auf wie das Internet oder die weltweite Zunahme der Computerpower auf der Kurzweil-Kurve.
Noch eine Tendenz scheinen die Systemumwälzungen allesamt aufzuweisen: Anders als der oben beschriebene, vereinende Kalibrierungseffekt der Schock-Ereignisse scheinen uns die Systemumwälzungen eher zu entzweien.
Nicht nur die Impflicht und der Klimawandel – auch die Digitalisierung geht längst als Riss durch die Branchen, aber auch, noch elementarer, durch die Generationen. Wenn man mal drüber nachdenkt, rollen wir doch die ganze Zeit übereinander die Augen und reden aneinander vorbei: die Analog-Worker, die eine Sache zu Ende bringen wollen, über die Digital-Worker, die das Leben schon lange als ewige Beta-Version betrachten. Eltern, die »frische Luft« und »Bewegung« predigen, über ihre Kids, die mit der realen Welt nichts mehr zu tun haben wollen. Teenager in der für diesen Lebensabschnitt typischen Abnabelungsphase, über ihre cringen Eltern, die ihnen partout auf Instagram folgen.
Talking ’bout my generation
Yes, Boomer und Zoomer, Smombies und Silver Surfer, Millenials und Digital Natives, eigentlich müssen wir uns gar nicht übereinander aufregen. Uns alle eint doch eine Tatsache: Unser aller Leben ist massiv durch die Digitalisierung geprägt. Die richtige Frage ist hier nicht, »Wo warst du am 11. September 2001?«, sondern der Blick auf die Biografie: Zu welchem Zeitpunkt in deinem Leben hat dich die Digitalisierung erwischt?
Ich für meinen Teil habe zum Beispiel eines Tages – befremdet oder amüsiert? – festgestellt, dass ich ziemlich genau so alt bin wie der PC und das Internet. Ich bin auf Grund meines Geburtsjahrs 1973 Teil der Generation, die mit einem Bein im analogen und mit dem anderen im digitalen Zeitalter steht. Meine Kindheit ist durch ein paar vergilbte Aufnahmen im Familienalbum dokumentiert, während ich selbst im ersten Lebensjahr meiner eigenen Kinder 10.000 Fotos in die Cloud gejagt habe. Musik gehört habe ich als Kind auf Kassette, als Teenager auf Vinyl, als Twen auf CD, in den 30ern auf dem iPod und den 40ern auf Spotify.
Es macht eben einen großen Unterschied, ob du schon als Kindergartenkind Memory auf dem Smartphone gespielt hast, ob du deinen ersten Tiktok-Account in der Grundschule hattest; ob die Digitalisierung schon im Studium dein Fachgebiet disruptiert hat oder erst kurz vor der Rente; oder ob du zu den Senioren-Jahrgängen gehörst, die ratlos vor der Online-Terminbuchung der Deutschen Bahn oder der Arztpraxis stehen und denen die Teilnahme am Leben nach und nach entgleitet.
Wo hast du die Liebe deines Lebens getroffen?
Es erklärt so viel über das Lebensgefühl einer Generation, wann, zu welchem Zeitpunkt in ihrem Leben, sich die Tür in den digitalen Raum geöffnet hat. Ich glaube, dass wir diese soziologische? psychologische? oder ganz einfach persönliche Frage in dem ganzen Digitalisierungshype viel zu selten stellen. Stattdessen sind wir in unseren Generationen-Echokammern mit Fortschrittsgläubigkeit und einer Art Digitalisierungswettbewerb befasst. Dabei beantwortet sie so vieles an Missverständnissen, Rissen, erspart uns so viel Unverständnis. Uns stünde, bedenkt man die zunehmende Dichte an systemischen Umwälzungen, die uns noch bevorstehen, ein bisschen mehr Fähigkeit zum Perspektivwechsel und Empathie gut zu Gesicht.
Und übrigens: Wie alt warst du, als du dein erstes Smartphone bekommen hast? Auf welchem Datenträger hast du deine erste Playlist gehört? Wo hast du die Liebe deines Lebens getroffen – im Internet oder in der echten Welt?
Julias neue Kolumne „diary of the digital age“
Den ganzen Tag sind wir mit Incoming Mails, Slack-Threads, Tickets und sonstigen Push-Notifications beschäftigt – haben wir überhaupt noch Zeit, einen sinnvollen Gedanken zu Ende zu denken? Ich denke, das ist genau das, was uns im Digitalzeitalter manchmal abgeht: das große Bild. Eine andere Ebene der Betrachtung, jenseits der Technologie, jenseits des Hypes: Was bedeutet die Digitalisierung für unsere Zusammenarbeit, unsere Kreativität, unser Leben? Genau um diese Fragen soll es in meiner neuen t3n-Kolumne »diary of the digital age« gehen. Trotz Blogging und ausgeprägter Internetsucht finde ich immer noch viele Antworten nicht im Netz – sondern in Büchern. Deshalb gibt’s zu meiner Kolumne auch immer einige Tipps für Good Reads.
Good Reads, empfohlen von jpeg
- Über die Natur von Ereignissen, die trotz Statistiken und Prognosen völlig unvorhergesehen über uns hereinbrechen: Nassim Taleb, »Der Schwarze Schwan«
- Ach, wenn die Sache so einfach wäre und die Digitalisierung einfach wieder weggehen würde: David Sax, »Die Rache des Analogen«
- Klassiker des Silicon-Valley-Evangelisten: Ray Kurzweil, »The singularity is near«