»Im Zimmer Nummer 57!« sagt Evelyn, die Hotelchefin, und lächelt mich verschmitzt an auf meine Frage, welches Zimmer das war, in dem Thomas Mann in ihrem Hotel residierte. Wow! Das ist genau das Zimmer, in dem ich wohne! So nah war ich dem Jahrhundertschriftsteller noch nie. Jetzt hat mich Bad Gastein endgültig in den Bann geschlagen, diese Stadt und die fantastische Landschaft, in der jeder Stein und jedes Haus Geschichte atmen und in der ich seit ein paar Tagen mit der Familie unterwegs bin. Wir residieren im Haus Hirt, einem traditionsreichen, modernisierten Haus aus den 1920er Jahren, mit atemberaubenden Blick auf das Tal und die Stadt. Haus Hirt wird heute von seinen Besitzern Evelyn und Ike Ikrath so stilsicher, gastfreundlich und lässig betrieben, dass man nach wenigen Stunden in die Haus Hirt-Welt mit ihren Ledersesseln, Büchern, Kronleuchtern und der unglaublich guten Bar absorbiert wird und nie, nie mehr gehen möchte.
Alter Glam, 70er Jahre-Utopie und offene Wunden
Bad Gastein ist verwirrend und faszinierend. Anders als viele andere österreichische Alpendörfer und -städte gibt Bad Gastein überhaupt kein homogenes Bild ab. Während beispielsweise Alpach sich damit rühmt, das einzige Dorf Österreichs zu sein, das in der historischen Holzbauweise errichtet ist, zeichnet sich Bad Gastein durch ein extrem fragmentiertes Gesamtbild aus, das fast an Berlin kurz nach der Wende erinnert. Versuchen wir das mal als Gedankenexperiment: Das Grand Hotel de l’Europe gleicht dem berühmten Hotel Adlon gleich am Brandenburger Tor, in der brutalen 70er-Jahre-Betonarchitektur des leer stehenden Bad Gasteiner Kongreßzentrums kann man Parallelen zum Berliner Alexanderplatz oder dem Palast der Republik in Ost-Berlin erkennen. Und schließlich erinnert der brachliegende Straubinger Platz, die tote Zone mitten in der Stadt, fast an den ehemaligen Berliner Mauerstreifen.
In Bad Gastein existieren diese Areale und Gebäude wie Zeitblasen nebeneinander her. Und wie Blasen sind auch Träume und Utopien geplatzt in Bad Gastein. Das besondere ist, dass die Zeitzeugen und Fossilien bis heute vielerorts erhalten sind, man kann in sie eintauchen und kommt aus dem Staunen nicht heraus.
Der Traum vom Kaiserbad
Während der Bergbau im Laufe der Jahrhunderte an Bedeutung verlor, löste das Kurwesen durch die Entdeckung radonhaltiger Quellen im 19. Jahrhundert einen Boom in Bad Gastein aus. Durch die neue Zugehörigkeit zum Habsburgerreich erhöhte sich die Promidichte des Ortes schlagartig: Kaiser, Könige, Politiker, Künstler und Intellektuelle kamen nach Bad Gastein. Viele der Grand Hotels entstanden, die bis heute dem Ort die mondände Anmutung verleihen: Durch die steile Hanglage im Gasteinertal wuchsen sie oft mit doppelter Geschoßzahl in den Himmel.
Der Status des mondänen Kaiser- und Kurort der Jahrhundertwende ließ sich nach dem Krieg nicht mehr einfach wiederbeleben, weil die alten, großen Grand Hotels nur für den Bade- und Kurbetrieb im Sommer ausgerichtet waren und für den aufkommenden Winterskitourismus nach dem Krieg schlichtweg keine Heizungen eingebaut hatten. Heute haben die alten Grand Hotels viel an Glanz eingebüßt oder sind geschlossen. Interessant wird es, wenn ein Wiederbelebungsprojekt gestartet wird – das jedoch z.B. bei der Villa Excelsior eher ein wenig old school und plüschig ausfällt, aber auch das eine Schatzkiste.
Aufbruch und 70er Jahre Utopie
Der Traum vom supermodernen Skitourismusort mit Felsentherme, und der Mega-Skistätte »Sportgastein« platzte Mitte der 1970er Jahre, nachdem der damalige umtriebige Bürgermeister Anton Kerschbaumer abgewählt wurde, viel zu jung verstarb und damit seine Vision der Stadt, die er zusammen mit dem Architekten Gerhard Garstenauer entwickelt hatte, nie vollenden konnte. Noch heute sind die spätmodernen Bauten Garstenauers, der 2016 starb, in der Bevölkerung umstritten. Dabei setzt gerade das Kongresszentrum mit seinen futuristischen Aluminium-Kugeln, die auch als Satelliten in Sportgastein und am Kreuzkogellift zu finden sind, einen radikalen Bruch und Kontrapunkt zum gewohnten Erscheinungsbild der Stadt (lies hier einen superinteressanten Beitrag des Architekturportals nextroom).
Die offene Wunde
Die für jeden Besucher der Stadt augenscheinliche offene Wunde der Stadt umschließt denn heute auch an eben jenes Kongreßzentrum und den Straubinger Platz, wo das legendäre Hotel Straubinger, das Postamt und das Badeschloß direkt neben dem weltberühmten Wasserfall liegen. Der Straubinger Platz ist ein symbolischer Ort für Bad Gastein, da hier die Keimzelle des alten Wildbades liegt: Wo heute die alte Straße an der Kirche St. Nikolai vom Tal heraufführt und das geschlossene Hotel Straubinger liegt, stand im 15. Jahrhundert ein altes Wirtshaus, die Taverne am Mittereck.
2005 kaufte ein Wiener Investorenduo diese Gebäude angeblich zu einem Spottpreis, von den ursprünglich angekündigten Erneuerungsplänen wurde nichts umgesetzt, die historischen Gebäude verrotten hinter Bauzäunen. Die Gerüchte schwirren, sie reichen von Grundstücksspekulation bis hin zu einem persönlichen Rachefeldzug gegen die Stadt.
Ein bisschen wie Berlin: Imperfekt, aber sexy
An Berlin kommt man in Europa nicht mehr vorbei, die Stadt zieht junge kreative Nomaden und Glückssuchende an wie die Fliegen. »Arm aber sexy«, beschrieb der ehemalige Berliner OB Wowereit den Grund. Und das beschreibt vielleicht auch den Grund, warum Bad Gastein eine ähnliche Anziehungskraft auf die europäische Creative Class und Hipster-Community ausübt. Sie lieben das Imperfekte. Weil es Raum für neue Interpretationen lässt.
Bleibt abzuwarten wie es weitergeht in Bad Gastein. Wir kommen mit Sicherheit wieder.
Haus Hirt Hotel & Spa
Kaiserhofstrasse 14
5640 Bad Gastein, Austria
0043 6434 2797-0
www.haus-hirt.com
Artikel über die Architektur Gerhard Garstenauers
Lies hier mehr zur Kunst-Initiative »Sommer.Frische.Kunst«