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»Experience wird zur Marke«: Vier Thesen zum Branding der Zukunft – Gastbeitrag in W&V online

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Dieser Artikel erschien in der W&V online am 5. Juni 2018

„Die Werbung in Zeiten selbstfahrender Autos wird radikal anders sein: Dein Lieblings-Sushi-Restaurant lässt dich abholen und zahlt die Fahrt.“ Auf der Bühne steht Jay-Jay Jungwirth, Volkswagen Digitalchef. Fast 1000 Kreative und Marketing-Experten folgen gebannt seinen Zukunftsvisionen. „In der vernetzten Welt muss sich die Werbung vom Senden verabschieden und aufs Zuhören konzentrieren.“ Raunen im Saal. Und auch für mich einer der Schlüsselmomente der Designkonferenz: Die Menschen kommen nicht mehr zur Marke. Die Marke muss zu den Menschen kommen.

Jay-Jay Jungwirth on stage

Jay-Jay Jungwirth, Volkswagen Digitalchef, mit seinem unverkennbaren Mittelscheitel und randloser Brille. © Monotype, kassnerfoto.de

Ein echter Perspektivwechsel, der da seit einigen Jahren im Branding im Gang ist. Und die, die den Beweis antreten müssen, sind die Brand Designer, wenn sie nicht an der Oberfläche kratzen, in ihrem Silo gefangen bleiben und wirklich und wahrhaftig die Welt der nächsten Dekade mitgestalten wollen (und das nicht nur den Tech-Nerds und Finanzern überlassen wollen). Was wir dazu brauchen ist eine holistische Auffassung von „Human-Centered“ Design (wie es Jay-Jay nannte), echte Design-Transzendenz.

Wo also steht das Thema Branding? In welche Richtung und unter welcher Maxime wird das Thema Marke 2018 gedacht? Wo liegt der Innovationspfad für eine Branche, die sich zunehmend im Verdrängungswettbewerb befindet?

Auf der Suche nach Antworten war ich an den Ort gegangen, an dem man einen Real Time Data Schnellcheck zum Thema Marke in Deutschland und Europa 2018 kriegt: zu den Brand Talks, im Rahmen der 23. TYPO Berlin, die seit einigen Jahren in den Händen des amerikanischen Font- und Tech-Hauses Monotype liegt. Hier einige Denkansätze.

„Your Culture is Your Brand“

Eine These war in vielen Vorträgen deutlich herauszuhören: In Zeiten, in denen Umbruch und Veränderung herrschen, wendet sich die Marke (die in den letzten Dekaden ihre Strahlkraft eher in der Außendarstellung eingesetzt hat) nach Innen, agiert symbolisch und stiftet Kultur, Sinn und Identifikation für die Mitarbeiter; sie geht dabei oft ganz an den Anfang zurück, besinnt sich stark auf die eigene Herkunft und die ursprüngliche Idee, um daran ihre Daseinsberechtigung in der neuen Welt neu zu denken. Dass mit Persil und Nivea zwei absolut ikonische Marken auf der Brand Talk-Bühne standen, passt zu dieser These; Ein weiteres gelungenes Beispiel in dieser Reihe ist der neue Auftritt der Unternehmensmarke Bahlsen, vorgestellt von Christian Bahlmann von Bahlsen und Heinrich Paravicini von der Hamburger Agentur Mutabor. Von einem Schlüsselmoment am 125. Firmengeburtstag erzählt Bahlmann; dabei wäre die gesamte Belegschaft eingeladen gewesen, die Eigentümerfamilie Bahlsen geschlossen auf der Bühne gestanden; als dann Bahlsen Senior, über 70-jährig, verkündete, Bahlsen werde Familienunternehmen bleiben, hätte es fünf Minuten geschlossen Standing Ovations von der Belegschaft gegeben. Ein echter, synergetischer Moment, eine Geschichte, die auch zeigt, warum der Unternehmensmarke gegenüber der Produktmarke eine besondere Rolle zukommt; die „geistige Heimat“ liegt eben im Unternehmen, nicht im Produkt. Für viele Details des neuen Erscheinungsbilds ist man in die Archive hinuntergestiegen und hat alte Vorlagen mit moderner Technik digitalisiert; das gilt für die rote Bildmarke „TET“, die aus dem letzten, ägyptophilen Jahrhundert stammt, „ewig dauernd“ bedeutet und ursprünglich ein Frischesiegel war; genauso wie für den neuen, mit jugendstiligen Elementen durchsetzen Corporate Font, der für die einzigartige Tonalität und Durchgängigkeit im Erscheinungsbild sorgt. Diese News ist nicht nur was für Type Nerds: der Corporate Font nimmt mehr und mehr die Rolle der Stimme des Unternehmens ein, die tief aus der eigenen Identität kommt und sich draußen in der Welt zu Wort meldet.

Christian Bahlmann von Bahlsen (kein Scherz!) nennt Bahlsen selbst »die Keksbehörde«. Im Hintergrund: Heinrich Paravincini von Mutabor. © Monotype, Norman Posselt

Die rote Bildmarke „TET“ („ewig dauernd“) stammt aus dem 19. Jahrhundert, als alles äpyptische total angesagt war, und war mal ein Frischesiegel. © Monotype, Norman Posselt

„Storytelling is Your Brand“

Nicht nur, sich draußen in der Welt zu Wort zu melden, sondern seine Inhalte systematisch als eine Art Brotkrumenspur für Hänsel und Gretel in der gesamten digitalen Welt zu streuen, das führt uns das neue Projekt von Ex-Bild Chefredakteur Kai Diekmann in Zusammenarbeit mit der jungen Agentur Diesdas.digital vor. „Es gibt kaum ein Volk auf diesem Planeten, das so hart für sein Geld arbeitet wir die Deutschen“, sagt Diekmann, „und es gibt kaum ein Volk, das dann das hart verdiente Geld so wenig für sich arbeiten lässt wie die Deutschen.“ Nur 8% aller Deutschen sind am Kapitalmarkt investiert. Mit einem einfachen Anlageprodukt, „Der Zukunftsfonds“, will Diekmann das ändern; nebenbei aber auch die Art und Weise, wie über Geld gesprochen wird. Und haut noch so eine plakative Zahl raus: „80% der Millenials würde lieber zum Zahnarzt gehen als zum Bankberater“. Die Frage lautet also: Wie kommen wir mit einem breiten Publikum ins Gespräch? Wie kommt die Marke in die Köpfe der Menschen?

Das Konstrukt hinter dieser Geschäftsidee ist intelligent und sprengt bei Weitem den Rahmen, den Brand Designer traditionell um das Thema „Marke“ gezogen haben. Marke ist hier nicht „Logo, Farbe, Schrift“; Marke besteht hier aus Zaster“, Online-Magazin und Content-Hub für alle Themen rund ums Geld. „Zaster“ schafft die Zugänge und Berührungspunkte zwischen Geld und dem echten Leben, mit redaktionellen Inhalten und Axel Springer als Partner, aber ohne Börsenticker. Zaster ist dabei kein Corporate Blog, die Themen und Sprache sind vom Joch von „Corporate Wording“ und „Corporate Language“ befreit. Das eigentliche kommerzielle Produkt, „der Zukunftsfonds“, ist redaktionell getrennt davon auf einer Marketing-Seite erhältlich.

Der Gedankenansatz insgesamt ist eine echte Bereicherung in der Themenlandschaft der Brand Talks und eine Aufforderung an Designer, dass die Berührungspunkte, der Zugang, die Beziehung zwischen Marke und Mensch eben vor allem über die Inhalte passiert – nicht die formalen Insignien.

»Zaster« soll die Art und Weise verändern, wie über Geld gesprochen wird. © Monotype, Norman Posselt

Story meets Brand: Kai Diekmann steht nach seinem Ausstieg bei Springer letzten Herbst wieder im Rampenlicht. © Monotype, Norman Posselt

„Users/Patients/Customers first“

Nicht wirklich neu ist das Leitmotiv „Users/Customers first“, der auch auf dieser Konferenz mantraartig genannt wurde (reden wir darüber nicht schon seit den 90ern?). Ich werde ein bisschen misstrauisch, wenn ich so etwas höre. Weil, wenn man es nötig hat, so eine Parole auszugeben, dann hat ja in der Vergangenheit irgend etwas mit der „Customer-Centricity“ nicht funktioniert. Und wenn man dann überall Zettel aufhängt, auf denen „Customers first“ steht, aber sich nicht wirklich nachhaltig an die Strukturen heranmacht, wird die Botschaft nichts ändern. Ein Case, der diese Frage nicht recht beantwortet hat, ist das Projekt Helios Kliniken, das die Leiterin Unternehmenskommunikation Natalie Erdmann und Creative Director Frank Schulze, sowie Christian Hanke, Kreativdirektor und Partner bei EdenSpiekermann, vorstellten. So mag man wohl die digitalen Touchpoints verbessert haben – verbesserte Website, verbesserte Sprache („messages should be short & simple, and don’t forget the emotions“ – ist es damit getan?). Was aber ist mit der „Experience“ im Krankenhaus? Wer einmal selbst oder mit einem kranken Angehörigen im Krankenhaus war, weiß, dass es kaum etwas gnadenloseres gibt als die langsam mahlende Mühle eines Krankenhauses, wo sich die Organisationsstruktur über den einzelnen stülpt: Stundenlange Wartezeiten, vorbeihuschende Ärzte und Schwestern, keine Auskunft, von Pontius zu Pilatus geschickt werden. Und was nützt denn eine sympathische, reibungslose digitale Experience, wenn es beim Übergang in die „echte Welt“ dann einen riesigen Bruch gibt und die analoge Vor-Ort-Experience dann einfach nur schrecklich ist? Ob auch hierfür Maßnahmen ergriffen wurden, erfahren wir zumindest im Vortrag nicht. Heute aber kann man nicht mehr über Design sprechen, ohne auch über Unternehmensstrukturen zu sprechen. Und genau hier, liebe Designer, liegt unsere Zukunft! In der Entwicklung holistischer Krankenhaus-, Einkaufs-, Behörden-, Mobilitäts-Experiences ohne Brüche zwischen der analogen und der digitalen Welt. Lasst uns die Welt um 180° umdrehen und alle gnadenlosen Apparate, Strukturen und Maschinen auf den Menschen hin ausrichten.

Die Leiterin Unternehmenskommunikation bei Helios, Natalie Erdmann, stellt das neue Erscheinungsbild vor. © Monotype, Norman Posselt

Bei den Brand Talks stehen Auftraggeber und Agentur gemeinsam auf der Bühne. Hier: Christian Hanke, Kreativdirektor und Partner bei EdenSpiekermann. © Monotype, Norman Posselt

„The experience becomes the brand“

Womit wir bei der letzten These angelangt wären. Und auf dieser Spur liegt der wahre Perspektivwechsel des digitalen Zeitalters. Denn althergebrachte Mensch-Maschine-Interfaces, aber auch Supermärkte, Banken, Service-Schnittstellen etc. spiegeln immer noch die eigene, alte Unternehmensstruktur wieder und verlangen vom Menschen, sich ihrer Logik anzupassen. Und so muss ich auch Maschinen-Sprache sprechen, aber die Maschine spricht nicht meine Sprache. Beispiel Kochen: Ich bediene einen Backofen, indem ich die „Ober- und Unterhitze aktiviere und eine Temperatur von 220° einstelle“, obwohl ich doch in meiner menschlichen Logik eigentlich nur – Schokoladenkuchen backen will (Gruß an meinen Freund Wolti :-x). Oder ich steige in mein Auto, starte den Motor, lege den Gang ein, gebe im Navi eine Adresse ein – obwohl ich doch in meiner Welt eigentlich nur einen Freund besuchen will. Genauso ist es mit dem Banking: Ich rufe eine Website auf, logge mich ein, klicke ein paar Knöpfe, gebe IBAN, Name, Betreff, Datum und eine TAN ein (mindestens acht Handgriffe), obwohl ich doch eigentlich nur einem Freund 25€ schicken will.

Genau um dieses Thema – von der Experience her zu denken und Interaktionen radikal zu vereinfachen – drehte sich einer der besten Vorträge des Tages: comdirect, auf der Bühne vertreten durch Christian Wendrock-Prechtl, und wirDesign mit Art Director Frederik Wilken. Christian, der in seinem knallgelben Pullover auf der Bühne eine echte Identifikationsfigur abgibt, macht zu Beginn seines Vortrags klar, dass ein Veränderungsprozess nur dann nicht nur „auf dem Papier“ stattfindet, wenn sich auch die Unternehmensprozesse und -strukturen ändern: Eigenverantwortliche Projektteams, agile Abstimmung und frühe Einbindung aller Mitarbeiter, statt hierarchische Freigabe- und Prozess-Kaskaden.

Die neue Marke comdirect ist für den Einsatz an allen digitalen Touchpoints gemacht. Anknüpfung an die Wiedererkennbarkeit liefert nach wie vor die Unternehmensfarbe Gelb, die aber für den Screen optimiert wurde, indem sie leuchtender und angereichert mit einem Farbspektrum zum Einsatz kommt, das gleichzeitig ein dezentes, schillerndes Animationsprinzip liefert. Zusammengehalten wird die digitale Marke an allen Touchpoints vor allem durch einen neuen Corporate Font, die FF Mark, in der die neue Wortmarke gesetzt ist, die aber auch in der gesamten Kommunikation eingesetzt wird. Abschließend gehört natürlich ein Icon Set zu einem digitalen Brand Kit. Doch an dieser Stelle lassen die Brand Designer nicht den Stift fallen. Die interdisziplinäre Schnittstelle mit dem UX-Design auf Kundenseite machte es möglich, auch die Art und Weise, wie ich mit der digitalen Bank in Kontakt trete, ganzheitlich neu zu denken. So führt Christian von comdirect Überweisung per Whatsapp oder Sprachnachricht vor, sowie erste Ansätze, die Bank über Alexa im eigenen Wohnzimmer zu kontaktieren. Das ist für mich ein zukunftsweisender Weg: Das Branding bleibt nicht an der Oberfläche, sondern reicht weit in das digitale Produkt hinein; die Interaktion wird zum Produkt, die Experience wird zur Marke.

Der Effekt, dass Designer bewusst oder unbewusst in der Unternehmensfarbe präsentieren, ist schon lange bekannt. Nicht zu übersehen bei WirDesigns Art Director Frederik Wilken. © Monotype, Norman Posselt

Verzahnte Denkweise: UX Designer und Brand Designer. Rechts Christian Wendrock-Prechtl von com.direct. © Monotype, Norman Posselt

In jedem Fall ist es erfreulich, dass Brand Designer an der gläsernen Decke kratzen, die ihnen die Unternehmensstruktur der Auftraggeber, aber vielleicht auch die eigene Denke auferlegt haben. Denn Brand Designer werden nur dann in der Lage sein, ihre Einflussbereiche zu vergrößern, wenn sie holistischer denken und die Marke ins Produkt, in die Prozesse und Strukturen genauso hineinreicht wie in die Interaktion und Experience; wenn sie nicht nur ein Versprechen gibt, sondern den Beweis auch mitliefert.