Geht es dir auch so? Ich sehe die Menschen um mich herum gefühlt permanent fotografieren, filmen oder Selfies machen. Ich habe das Gefühl, sie schauen sich gar nicht mehr das Leben an. Sondern sie schauen das Leben durch den Display an.
Generation Broadcast
Das dritte Auge, durch das die Menschen des 21. Jahrhunderts die Welt betrachten, sind die digitalen Kommunikationsmedien: Smartphones, Blogs und Social Media. Befüttert wird diese durch das Film-, Foto- und Broadcasting-Studio, das jedermann in seiner Hosentasche ständig mit sich herumträgt. Heute werden weltweit pro Minute 72 Stunden Video auf YouTube hochgeladen, 3 Millionen Beiträge auf Facebook geteilt fast eine Viertelmillion Bilder auf Instagram gepostet (Die Zahlen stammen aus einem tollen Buch, das ich hier demnächst bespreche: »The Content Trap« von Bharat Anand«). Es wäre also verwunderlich, wenn sich diese neue, digitale Ebene in die Wahrnehmung der Welt nicht nur im kollektiven Schwarmverhalten einer ganzen Generation, sondern auch im Alltag jedes Einzelnen niederschläge.
Neulich waren meine Familie und ich in Hamburg und haben eine Hafenrundfahrt gemacht. Alle Leute auf dem Boot haben wie irre Containerschiffe und Lastenkräne fotografiert. Wer schaut sich die Bilder hinterher noch an? Wir waren in Italien, am schiefen Turm von Pisa. Völlig überlaufener Ort mit vielen Touristen. Sie schauen nicht den Turm an, sondern machen Fotos von sich selbst in allen möglichen Posen vor dem Turm. Ich war auf einem Konzert. Bei jedem Song gehen die Handys in die Luft und produzieren minutenlange Filme. Die Hobbyfilmer hören sich nicht mehr live Musik an, sondern sie produzieren stattdessen eine Erinnerung des Konzerts. Sie schauen nicht mehr die Band auf der Bühne an, sondern sie schauen in ihr Display. Ein befreundeter Musiker hat mir neulich erzählt, unter Musikern würde sich langsam ein Groll breit machen, weil sie Mühe haben mit dem Publikum zu connecten. Weil ihnen auf der Bühne niemand mehr in die Augen schaut. Weil alle nur noch auf ihr Display schauen.
Was hat sich verändert?
Im Grunde genommen haben sich Realität und Story schon voneinander gelöst, als der Mensch die Sprache erfand, vor ungefähr 70.000 Jahren. Davor war ein Ding eben einfach ein Ding, beispielsweise ein steinzeitliches Werkzeug, sagen wir ein Feuerstein. Nachdem der Mensch angefangen hatte zu sprechen (und später zu schreiben), änderte sich dies: ab da konnte er eben auch über den Stein sprechen, eine Geschichte über ihn erfinden und gewissermaßen ein Spiegelbild des Steins im virtuellen Raum erschaffen. Diese Tatsache wird in der Menschheitsgeschichte als die kognitive Revolution bezeichnet (Good Read: Yuval Hararis »Eine kurze Geschichte der Menschheit« – lies hier meinen Review), und erst die Sprache und die geistigen Gebäude, die man mit ihrer Hilfe errichten konnte, befähigten den Menschen dazu, in großen Gruppen zu kooperieren, die einer gemeinsamen Idee folgten. So entstanden in grauer Vorzeit Mythen und Religionen genau so wie heute Unternehmen: Alle folgen einer gemeinsamen Story. Seit dieser Zeit sind die Dinge (und Menschen und Organisationen und überhaupt alles) doppelt vorhanden: als Realität. Und als Story.
Bewusstsein für beide Ebenen
Die Logik von Realität und Story ist also an sich nichts Neues, im Grunde genommen seit tausenden von Jahren bekannt. Umso erstaunlicher ist es, wie wenig diese Tatsache im allgemeinen Weltbild etabliert ist, ja, wie wenig sich die Menschen manchmal dessen bewusst sind.
Ein Bekannter von mir, Inhaber einer internationalen Agentur, die sich mit vernetzten Produkten, Internet-of-things und Ecosystem befassen, erzählte mir von einem Ausraster einer seiner Leute. Dieser war als Projektleiter an der Entwicklung einer intelligenten Shampoo-Misch-Maschine beteiligt. Diese sollte für eine große USA-Messe fertig werden. Der Projektleiter hatte Müh und Not, den Prototypen überhaupt im Timing hinzubekommen. Ein Vorgesetzter kam irgendwann hinzu und meinte, die Shampoo-Mischmaschine sehe absolut grottig aus, so könnte sie unmöglich auf der Messe stehen. Der Projektleiter rastete total aus – er hatte sich als echter Ingenieur auf die Entwicklung eines echten, funktionierenden Prototypen konzentriert. Dabei war für die Messe eher die ‚Story‘ gefragt: eine Attrappe, die gut aussah, vielleicht die ein oder andere Fake-Funktion aufweisen konnte, aber vor allem für die Pressemeldung und das Foto was her machte. Armer Projektleiter.
Die Story im Sprachgebrauch
Man hätte wahrscheinlich im Vorfeld genauer die eigentliche Zielsetzung des Projekts besprechen können, zum Beispiel unter Verwendung eines Schlüssels wie »15% Realität, 85% Story«. Aber diese Art von Vereinbarungen habe ich in zwei Dekaden Projektgeschäft selten gehört. Die Unterscheidung beider Ebenen ist allein schon in unserem Sprachgebrauch nicht angelegt (vielleicht weil die Sprache allein ja auch schon die Storyebene ist, und ergo für sich selbst unsichtbar?). Sonst könnte man ja zB im Gespräch eine Gedankenfolge so moderieren: »Achtung, ich wechsle jetzt mal in die Story-Ebene«. Da es das aber nicht wirklich gibt, kommt es zu Verwechslungen und Verwirrungen: Reden wir über das Produkt an sich? Oder darüber, wie wir über das Produkt reden?
Das Zeitalter der Story
In unseren Zeiten beobachte ich, dass die Aufspaltung zwischen realer Welt und Story immer weiter voranschreitet. Fake News, also die Loslösung von Nachrichten von der Realität, sind ein Auswuchs dieses Phänomens. Und nicht nur das: Die Story übernimmt mehr und mehr das Ruder. Ein Zitat von Melania Trump (oder war’s Ex-Frau Ivana?), das ich nach dem Wahlsieg irgendwo gelesen habe, aber leider hinterher trotz ausführlicher Recherche nie mehr wiedergefunden habe, lautete sinngemäß, der Wahlsieg von Trump hätte gezeigt, dass die Story endgültig über die Realität triumphiert.
Was bedeutet denn das, wenn die Story sich vor die Realität setzt? Es verändert den Menschen, seine Handlungs- und Sichtweise. Er blickt nicht mehr direkt und unmittelbar auf die Dinge, sondern immer aus der Warte, wie sie sich anhören, wenn man sie jemand anderem erzählt. Nicht mehr das Leben selbst. Sondern das Leben als Story. Die Inszenierung des eigenen Ich in den Social Media entspricht genau dieser Sichtweise.
Wenn die Story die Maxime ist, verändert das wiederum in der Rückkoppelung die Realität und die Dinge im echten Leben. Im Münchner Blog Mucbook hab ich neulich die eher scherzhafte Bemerkung gelesen, dass der Leberkäse ein Imageproblem hat, weil er auf Instagram nicht gut aussieht. Während hingegen der Siegeszug der Pokebowls dadurch zu erklären ist, das der Inhalt der türkisen Porzellanschüsseln mit Reis, Gemüse und Kräuter-Allerlei einfach extrem fotogen ist und somit massenhaft in den sozialen Medien verbreitet wird. Was hat das zur Folge? Dass es in den hippen Vierteln und Streetfood-Eldorados wie der Münchner Türkenstraße eben immer mehr Pokebowl-Läden gibt. Während sich der Metzger am Eck schwer tut.
Auch in meinem eigenen Umfeld beobachte ich, dass sich die Realität zunehmend der Story unterzuordnen hat. Neulich waren wir zum Beispiel auf einer Millenial-Hochzeit eingeladen. Das Hochzeitspaar hatte ein Film- und Fototeam engagiert, das die gesamte Veranstaltung dokumentierte. In allen wichtigen Momenten huschten die schwarz gekleideten Film-Leute durchs Bild, im Mittelgang der Kirche, beim Ehegelübde, beim Ringtausch, beim Kuss. Später dann war eine Luftballon-Aktion geplant. Man kennt das, 50 Leute lassen einen roten Herzluftballon mit einer Karte daran fliegen. Die Drohne, die dieses Schauspiel filmen sollte, hatte technische Probleme. Und so stand die gesamte Hochzeitsgesellschaft eine halbe Stunde auf der Wiese herum, mit dem Ballon in der Hand, bis die Drohne einsatzfähig war. Irgendwie beschlich mich das Gefühl, dass es gar nicht mehr um das Erlebnis der eigentlichen Hochzeit ging. Sondern dass die Hochzeit nur aufgeführt wurde, um sie zu filmen und perfekte Bilder zu produzieren.
Beim Nobelpreisträger Kahnemann in seinem Buch »Thinking fast and slow« gibt es dazu ein interessantes Konzept: In unserem Gehirn gibt es ein experiencing self. Und ein remembering self. Man könnte also den Eindruck bekommen, dass in unserer Zeit der Hirnbereich mit dem remembering self sich evolutionär extrem weiterentwickelt, während der Teil des experiencing self verkümmert?
Story versus Realität
Wie so oft gibt es auch bei den Ebene Realität und Story eine Art »wir gegen euch«. In fast jedem Konzern verläuft ein tiefe Bodenspalte vom Vorstand bis in die letzte Unterabteilung zwischen genau diesen beiden Welten: die einen, die das Produkt machen (die Produktentwicklung, sozusagen die Reality-Abteilung). Und die anderen, die darüber reden (die Marketeers, also die Story-Abteilung). Die Stimmung im Konzern zwischen Entwicklung und Marketing ist oft nicht zum besten bestellt, es gibt viele Vorbehalte ‚der anderen Seite‘ gegenüber. Die Storyteller sehen die Entwickler als die Nerds im Elfenbeinturm, die wenig bis keine Ahnung haben, was draußen in der Welt abgeht. Die Entwickler sehen die Storyteller wiederum als Laber-Typen, die die »PZP – Prosa zum Produkt« fabrizieren (Vor einiger Zeit habe ich einen Artikel darüber in der Horizont geschrieben: »Die Story des Ingenieurs«). Diese Art von Diskussion habe ich oft mit meinem Vater – er ein Ingenieur alter Schule, ich eben eine aus der Story-Fraktion. Leider muss ich als Vertreter dieses Menschenschlags jedoch selbstkritisch feststellen, dass die Laber-Typen beispielsweise in der Politik die Macher vom alten Schlag ablösen – bislang sind ja beispielsweise alle Wortführer des Brexits in UK von ihren Ämtern zurückgetreten, wenn es darum ging, das Ding durchzuziehen.
Beide Ebenen vereinen
Aber warum immer gegeneinander arbeiten? Es gäbe ja auch die Möglichkeit, die andere Seite anzuerkennen und beide Ebenen virtuos miteinander zu verbinden. Wenn man mal genau hinschaut, sind Unternehmer heute erfolgreich, die genau das verstanden haben.
Einer von ihnen ist beispielsweise Elon Musk. Nicht umsonst hat er seine Finger tief drin in der Produktentwicklung und kümmert sich höchstselbst um die Pressearbeit seiner Unternehmen. Die genialen PR-Schachzüge, dass er einen Tesla Roadster mit einer SpaceX-Rakete ins All oder einen Tauchroboter zu einem Höhlenunglück in Thailand schickt, sind alle sein Werk. In seiner Biografie »Wie Elon Musk die Welt verändert« (lies hier meinen Review) gibt es eine Anekdote, die seine intelligente Verzahnung von Realität und Story beschreibt: Kurz vor der Fertigstellung der ersten SpaceX-Rakete teilte er seinen ohnehin über der Belastungsgrenze arbeitenden Ingenieuren mit, dass er zur Präsentation der Rakete noch eine zweite Rakete brauche, eine Attrappe der echten Rakete. Diese wollte er vor dem Weißen Haus aufbauen. Die Ingenieure rasteten komplett aus, weil sie natürlich diejenigen waren, die die Doppelbelastung zu tragen hatten, die eine gleichzeitige Bespielung von Realität und Story mit sich bringt (Du erinnerst Dich an den armen Projektleiter mit der Shampoo-Mischmaschine, weiter oben?). Sie hassten ihn dafür. Aber als hinterher das Medienecho auf die Aktion überwältigend war, liebten sie ihn für seine Weitsicht. Elon spielt permanent auf beiden Ebenen. Er nutzt die Story, um eine große Vision zu formulieren, die besten Leute und Investoren ins Boot zu holen, dem Produkt den Boden zu bereiten und eine Veränderung herbeizuführen, die ganze Branchen auf den Kopf stellt. Das eigentliche Produkt und Business Model entwickelt er parallel im Windschatten der großen Story.
Wir erleben gerade wilde Zeiten der Veränderung und Innovation. Es gibt sicher Zeiten, in denen die Menschen eher in der Vergangenheit leben; wir leben mit dem Kopf in der Zukunft in einer Art utopischen Zeitalter. Dabei kann die Story die Aufgabe der self-fulfilling prophecy übernehmen. Insofern sind wahrscheinlich beide Größen mächtig: Das Machen, Entwickeln, Tatsachen schaffen auf der einen Seite; genauso wie das Formulieren einer großen, inspirierenden und visionären Geschichte auf der anderen. Und am mächtigsten wirken Realität und Story zusammen: als Complements – sich gegenseitig bedingende und synergetisch verstärkende Größen.