Design mit kulturellem Tiefgang
Design hat dann für mich eine unendliche Tiefe, wenn es der Designer schafft, eine Brücke zur Kultur zu schlagen. Wenn also der Produktdesigner den Bogen spannt zu zehntausenden Jahren Menschheitsgeschichte und die Art und Weise, wie Menschen seit eh und je bestimmte Werkzeuge verwenden. Wenn es dem Kommunikationsdesigner gelingt, in seiner Arbeit eine Verbindung zu elementaren Wahrheiten, archaischen Symbolen und dem kulturellen, kollektiven Bewusstsein herzustellen. Design stellt in gewisser Weise die Weltsicht des Designers dar, ist immer ein Spiegel und erzählt die Geschichte der menschlichen Kultur. Wenn dies nicht gelingt, kratzt Design nur flach an der Oberfläche, verbreitet werbliche und kommerzielle Botschaften und driftet so ab in Richtung Dekoration und Bedeutungslosigkeit.
Für den Designer bedeutet das, permanent den Blick über den Tellerrand zu tun, sich gezielt mehrdimensional mit geschichtlichen, soziologischen, sprachwissenschaftlichen, biologischen, psychologischen usw. Einflüssen zu beschäftigen. Yuval Noah Hararis Buch »Eine kurze Geschichte der Menschheit« ist sozusagen der Rundumschlag für dieses Unterfangen.
Das Buch gliedert sich grob in die drei großen Revolutionen der Menschheitsgeschichte: die kognitive Revolution, als der Mensch eine Sprache entwickelte, die landwirtschaftliche Revolution, als der Mensch seine Freiheit gegen die Sesshaftigkeit eintauschte und sich die Menschheit sprunghaft vermehrte; sowie die wissenschaftliche Revolution, die seit ca. 500 Jahren für den atemberaubenden Fortschritt sorgt, den wir heute mehr als je zuvor erleben.
Und was hat das jetzt mit Design zu tun?
Wir oben bereits erwähnt ist der Designer nun mal Illustrator und Übersetzer der Kultur. Deshalb bietet »Eine kurze Geschichte der Menschheit« unzählig viele Anknüpfungspunkte für Designer. Hier einige konkrete Beispiele.
Die Entwicklung einer fiktiven Sprache
Das Erfolgsgeheimnis des Menschen, der Grund warum der Mensch nach der kognitiven Revolution begann, die Welt zu erobern, ist laut Harari seine Fähigkeit, sich in großen Gruppen zu organisieren. Voraussetzung dafür war seine einmalige Sprache. Und die wahre Errungenschaft der Entwicklung der Sprache ist dabei nicht, dass Menschen sich gegenseitig zum Beispiel vor einem sich nähernden Säbelzahntiger warnen konnten:
»Das Einmalige ist, dass wir uns über Dinge austauschen können, die es gar nicht gibt. Soweit wir wissen, kann nur der Sapiens über Möglichkeiten spekulieren und Geschichten erfinden. Legenden, Mythen, Götter und Religionen tauchen erstmals mit der kognitiven Revolution auf. Viele Tier- und Menschenarten konnten ‘Vorsicht Löwe!’ rufen. Aber dank der kognitiven Revolution konnte nur der Sapiens sagen: ‘Der Löwe ist der Schutzgeist unseres Stammes.’ Nur mit der menschlichen Sprache lassen sich Dinge erfinden und weitererzählen. Man könnte sie deshalb als ‘fiktive Sprache’ bezeichnen. (…) Mit der fiktiven Sprache können wir uns nicht nur Dinge ausmalen – wir können sie uns vor allem gemeinsam vorstellen. Wir können Mythen erfinden, wie die Schöpfungsgeschichte der Bibel, die Traumzeit der Aborigines oder die nationalistischen Mythen moderner Nationalstaaten. Diese und andere Mythen verleihen dem Sapiens die beispiellose Fähigkeit, flexibel und in großen Gruppen zusammenzuarbeiten.«
Ebenso ist für mich Design eine fiktive Sprache mit einem eingebauten Abstraktionsgrad. Design ist in der Lage, ebenso symbolhafte, übergeordnete Realitäten darzustellen: Beispielsweise entwirft ein Corporate Design ein symbolhaftes Bild eines Unternehmens oder eines Produkts und wie sie sich in der Welt darstellen. Und Kommunikationsdesign entwirft genau diese Geschichten und Mythen, die es zu erzählen gilt, um in unserer modernen Welt Kunden, Mitarbeiter, Stakeholder dazu zu bringen, einer Idee zu Tausenden zu folgen:
» Jede großangelegte menschliche Unternehmung – angefangen von einem archaischen Stamm über eine antike Stadt bis zu einer mittelalterlichen Kirche oder einem modernen Staat – ist fest in gemeinsamen Geschichten verwurzelt, die nur in den Köpfen der Menschen existieren. Glaubensgemeinschaften basieren auf diesen kollektiven Mythen und in diesen kollektiven Vorstellungswelten«. Weiter im Text nennt er letztere auch »Fiktionen«, soziale Konstrukte« oder »erfundene Wirklichkeiten«.
Die Entwicklung der Schrift
Der nächste Schritt in der Evolution des Menschen war die landwirtschaftliche Revolution, als der Mensch sesshaft wurde. So entstanden immer komplexere Gemeinschaften wie Dörfer und später Städte. Die Gruppen, in denen der Mensch interagierte, wurden größer, so dass das gesprochene Wort auf eine neue Stufe der Informationsverarbeitung erhoben wurde: durch die Erfindung der Schrift.
»Als nach der landwirtschaftlichen Revolution immer komplexere Gesellschaften entstanden, wurde jedoch eine völlig neue Art von Information überlebenswichtig: Daten und Zahlen. Jäger und Sammler mussten sich keine Zahlen merken (…). Doch um ein Weltreich beherrschen zu können, waren Zahlen entscheidend. Es reichte nicht aus, Gesetze zu diktieren und Mythen über Schutzgötter zu erzählen. Die Herrscher mussten auch Steuern eintreiben. Aber um Hunderttausende Menschen besteuern zu können, mussten gewaltige Mengen von Zahlen gespeichert und verarbeitet werden (…). Vor dieser Informationsflut musste das menschliche Gehirn kapitulieren (…). Die ersten, die eine Lösung für dieses Problem fanden, waren die Stummerer, die zwischen 3500 und 3000 vor unserer Zeitrechnung im Süden Mesopotamiens lebten (…). Irgendwann erfand ein unbekanntes Genie ein System zur Speicherung und Verarbeitung von Information, das vom Gehirn unabhängig war (…). Das Datenverarbeitungssystem, das die Stummerer erfanden, nennt sich »Schrift«.
Interessant also die Erkenntnis, dass die weltweit erste Schrift, die entwickelt wurde, dazu diente, Einkommen, Steuerzahlungen, Zahlungsrückstände, Steuerschulden und Strafzinsen zu dokumentieren:
»Die ältesten Texte der Menschheit enthalten leider weder tiefschürfende philosophische Erkenntnisse noch Gedichte, Legenden, Gesetze oder Heldenepen. Es handelt sich um ganz alltägliche Aufzeichnungen aus dem Geschäftsleben (…). Die erste sumerische Schrift war kein vollständiges, sondern nur ein partielles Schriftsystem. Ein vollständiges Schriftsystem ist eine Schrift, mit der sich die gesprochene Sprache mehr oder weniger vollständig wiedergeben lässt. Sie kann daher alle sprachlichen Äußerungen von Menschen aufzeichnen, und damit natürlich auch die Dichtung. Partielle Schriftsysteme sind dagegen Zeichensysteme, mit denen sich nur ganz bestimmte Informationen aus klar definierten Bereichen erfassen lassen, wie die mathematische Schrift oder die Notenschrift.«
Sich nochmals die Anfänge der Schrift und die ersten Schriftsystem vor Augen zu führen, finde ich heute im Type Design aktueller denn je; erleben wir doch heute eine Zeit, in der neue, partielle Schriftsysteme große Erfolge feiern. Allen voran die Emoticons, die mittlerweile in Messenger Apps wie WhatsApp auf der Umschalttaste direkt neben den Zahlen liegen. Die Menschen erfinden nunmal immer die Schriftsysteme, die in der Lage sind, ihren Anforderungen und vor allem ihren Inhalten zu entsprechen ;-)
Big Picture der Menschheitsgeschichte
Selten bekommt man ein so universelles »Big Picture« des Menschen und der gesamten Menschheitsgeschichte geliefert. Und es ist gut, als Designer den Menschen zu verstehen! Schließlich unterscheiden wir uns genetisch und emotional heute auch nicht wirklich von unseren Vorfahren, den Wildbeutern, die vor 15.000 Jahren durch die Wälder streiften.