Wie sind die „Dinge“, die wir tagtäglich gebrauchen, heute eigentlich strukturiert? Kommen Funktionen und Inhalte im digitale Zeitalter zusammen (im eigentlichen Wortsinn und im folgenden bezeichnet als ’Konvergenz’) oder streben sie auseinander (’Divergenz’)? Und was hilft uns beim Digital Detox? Eine philosophische Betrachtung über die Ordnung der Dinge, die uns umgeben – und ein Blick in ein unterschätztes Forschungsgebiet: eine (analoge) Frauen-Handtasche.
An einem warmen Tag im April saß ich mit meiner Freundin Sarah-Joan beim Mittagessen auf der Terrasse des „Ella“ neben dem Lenbachhaus. Wir sprachen über dieses und jenes (wir haben eine lange und wechselhafte gemeinsame Vergangenheit); schließlich kamen wir auf meinen zugegebenermaßen sehr hässlichen, riesigen Geldbeutel zu sprechen, der viel Platz auf unserem kleinen Bistro-Tischchen beanspruchte.
Ich hatte ihn als Impulskauf in einem Skateboard-Shop in Salzburg gekauft, während meine Söhne sich die Nasen an der Skateboard-Wand platt drückten. Eigentlich hatte er fast eher im Format eines Schulfedermäppchens. Was mich aber wirklich überzeugte, war sein Innenleben, seine Struktur. Er hatte viele Fächer für Plastikkarten und Geldscheine, ein verschließbares für Münzen, viele Extrafächer für Belege. Das beste war, das er auch noch über einen eigebauten Spiegel verfügte und eine Gummischlaufe, durch die man einen Stift stecken konnte. Wie gemacht für die komplexen Anforderungen eines Skater-Lebens: den ganzen Tag auf Achse, wilde Sprünge, und immer alles am Laib dabei. Eigentlich dem Leben einer Business-Lady mit Familie nicht ganz unähnlich. Gedacht, gekauft: „Endlich ein Geldbeutel, in den ALLES reinpasst!“ war mein Gedanke. Danach hatte ich schon lange gesucht.
Jetzt lag er auf unserem Bistro-Tisch im Ella, und Sarah-Joan stellte eine Frage, die das Denkmodell hinter dem Kauf des Geldbeutel mit einem Schlag zum Einstürzen brachte: „Muss denn überhaupt alles in einen Geldbeutel reinpassen?“ Sie machte ihre kleine, strenge, schwarze Handtasche auf und gab mir eine Einführung in ihr Ordnungssystem: Sie legte eine eine Vielzahl von unterschiedlichen Mäppchen und Täschchen auf den Tisch. In einem bewahrte sie alles auf, womit man bezahlen kann: Scheine, Münzen, EC- und Kreditkarten. In einem anderen Mäppchen alle Belege und Quittungen. In einem weiteren alle anderen Plastikkarten, usw. Ich war platt. Daran hatte ich noch nie gedacht! Seit ich einen Geldbeutel bei mir habe, also seit Teenager-Jahren, war ich immer von dem Paradigma ausgegangen, dass man alles in ein Behältnis packt, und hatte mich mit den daraus resultierenden Folgen herumgeschlagen: ein viel zu voll gepackter Geldbeutel, zu wenige und wegen Überfüllung zu enge Plastikkarten-Schlitze, ein winziges Geldfach, in dem man nie das passende findet, wenn man an der Supermarktkasse hektisch ein paar Münzen loswerden will.
An dieser Stelle muss ich dem geschätzten Leser, der bis hierher durchgehalten hat und sich vielleicht immer noch fragt, warum um alles in der Welt man über Strukturen im Geldbeutel schreibt, erläutern, dass das eine Berufskrankheit ist: ich bin Designerin. Designer befassen sich immer damit, Ordnungssysteme zu entwickeln: ein Brand Designer ordnet alle Elemente in der Außendarstellung eines Unternehmens (Logo, Farben, Schriften), ein Editorial Designer befasst sich mit der Ordnung von Inhalten in Magazinen, Büchern und Zeitungen (User Guidance, Register, Kapitelkennzeichnung, Headlines), Web- oder UX-Designer ordnen Menüstrukturen, Navigation und Icons auf dem Bildschirm. Ordnung und Strukturen sehen und schaffen ist also eine Art Berufskrankheit von Designern.
Sarah-Joan packte ihre Täschchen und Mäppchen wieder ein, wir bestellten noch zwei Weißwein und unser Gespräch drehte sich weiter um die Ordnung der Dinge und wie sich die Digitalisierung auf die Ordnung der Dinge auswirkt.
Ein Blueprint für Konvergenz: Das iPhone
Meine ersten Berufsjahren hatte ich kurz vor der Jahrtausendwende in London und Berlin verbracht, hatte in unterschiedlichen Designagenturen gearbeitet und war auf Dotcom-Partys gegangen. In der überdimensionierten Handtasche für meine urbanen Streifzüge hatte ich ein Nokia Handy, ein Filofax, einen Palm Pilot (damals heißer Scheiß), einen mp3-Player und eine Canon ixus (das letzte Aufbäumen der Kleinbildformate vor der Digitalisierung der Fotografie) dabei. Spitzname Gadget Girl. Und fragte mich jedesmal, wenn ich wieder in meiner Tasche herumkramte, warum nicht mal jemand EIN Gerät für alles erfinden könnte. Es lag in der Luft, das „Ding“, das alles bündelt. 2001 kam der iPod und iTunes, 2007 das iPhone, 2008 der App Store; diese Verzahnung von iPhone und Apps als Complements machte es für jeden Developer weltweit möglich, Apps für das iPhone zu entwickeln und damit einen Blueprint für eine neue Art von Business Model zu schaffen. 2018 verschafft dieses Gerät in ca. 700 Millionen Hosentaschen Zugang zu 2 Millionen Apps – eine Art Mary Poppins-Super-Geldbeutel, die Mutter aller Konvergenz-Bündelungs-Tools.
Divergenz in der Musikindustrie: Das Ende der Langspielplatte
Nicht ganz unbeteiligt waren das iPhone und iTunes an der Disruption des Musikgeschäfts. Die Verkäufe von Vinyl-LPs befanden sich seit Mitte der 80er Jahre schon im Niedergang; abgelöst durch den neuen digitalen Datenträger der Compact Disc. Doch unabhängig vom Datenträgerformat kontrollierten die Musikverlage weiterhin, wie der digitalisierte Content abgepackt und verkauft wurde, nämlich im »Bundle« der Langspielplatte. Einzelne Songs gab es nur als »Single« zum höheren Preis (mit einem bedeutungslosen B-Side-Song, den du dir nicht aussuchen konntest). Ob du wolltest oder nicht, du musstest das ganze Paket kaufen, auch wenn dich das meiste auf der Platte nicht interessierte.
Eine der umstürzlerischen Veränderungen, die Napster und später iTunes mit sich brachten, war, dass sie dieses Paket aufbrachen. Seit iTunes konntest du Songs einzeln kaufen, für 99 Cent das Stück. Und den Rest von Deinem iPod mit geklauter Musik vollpacken. Vor allem das Machtgefüge verlagerte sich dadurch: Weg von den Verlagen. Hin zu den neuen digitalen Plattformen iTunes und Spotify. Aber auch hin zum Enduser und Musikkonsumenten. Das Aufbrechen des Bündels, die Divergenz der Musik, führte auch zu einer Demokratisierung und Individualisierung der Entscheidung, wie man seine Musik ordnen und strukturieren wollte, als Mixtapes und Playlisten. Wie meine Geldbeutel-Erkenntnis, dass nicht alles in eins muss: eine divergente Struktur.
Also hat die Konvergenz des Tools (iPhone) zu einer Divergenz des Contents geführt. Ist das ein Muster der Digitalisierung? Dass eine Konvergenz im einen Bereich zu einer Divergenz in einem anderen führt? Hier ein Beispiel, das, ausgehend vom iPhone, genau in die gegenteilige Richtung verweist: wie aus einer App eine Art Konvergenz-Monster wurde.
Konvergenz Feature Creep: BMW Connected App
Das iPhone war ja noch in anderer Hinsicht bahnbrechend: nicht nur eine Art Super-Schweizer Messer in jedermanns Hosentasche. Sondern auch für viele technische Maschinen eine neue Schnittstelle außerhalb des Geräts. Früher standen die Dinge nur als stumme Diener in unseren Haushalten herum: die Heizung im Keller, der Feuermelder an der Decke, die Solaranlage auf dem Dach, das Auto in der Garage. Mittlerweile sind das alles ‚Smart Devices‘. Durch das Internet of Things und das Auslagern von Funktionen in Apps hat die Bandbreite an Funktionen insgesamt zugenommen. Welche Ausmaße das im Laufe der letzten Jahre angenommen hat, sieht man beispielsweise an der Entwicklung der Connected App von BMW.
Es hatte schon in der Vergangenheit Apps gegeben, die Funktionen eines BMW auch außerhalb des Fahrzeugs bündelten, z.B. die BMW Remote App. Im Sommer 2016 verkündete BMW jedoch, sämtliche Funktionen in Zukunft in einer einzigen App zu bündeln, die BMW Connected App, “an all-encompassing digital concept that provides a seamless services experience covering all aspects of personal mobility.” Das ganze Leben in einer App – das ist in der Tat ein extrem breiter Funktionsumfang: Wohin ich wann welche Strecke fahre, wie ich zu Fuß weiterkomme, wie ich mein Auto bezahle, mein Auto von der Ferne heizen, hupen, abschließen, wie wo und wann ich lade und wie ich dafür bezahle, Smart Home Devices in meinem Haus ansteuern und über Alexa mit meinem Auto reden – alles das kann die App. Während sich viele der rund 300 User-Bewertungen im App Store vor allem darum drehen, was nach dem letzten Update besser oder schlechter läuft oder wie man einzelne Funktionen zum Laufen kriegt, blitzt bei einigen eine tiefergehende Erkenntnis auf. „Über die Sinnhaftigkeit der Tracking und Fahrtplanungsfunktionen lässt sich streiten“, schreibt beispielsweise der User ‚iVerkehr‘. „Ich brauche keine Zielesammlung und das ganze andere Zeug das mein iPhone auch vorher schon konnte“ bringt es ‚John-Boy85‘ auf den Punkt.
Müssen all diese Funktionen wirklich alle in eine App hinein? Heißt seamless user experience automatisch ’All in One?’ Von ’Feature Creep’ spricht man in der Automobilindustrie. Ähnlich wie mein vollgestopfter Geldbeutel ist eine so mit Funktionen überladene App in der Praxis für niemanden mehr kontrollierbar. Für den User nicht, der im Dschungel der Funktionen nie das findet, was er sucht; und, von der anderen Seite betrachtet, für die Teams nicht, die an der App und ihren Updates arbeiten, sich in Scrum-Sprints und Ticketsystemen verirren und den großen Blick fürs Ganze schon lange aus den Augen verloren haben.
Divergenz als Digital Detox
Es sind genau diese technologischen Entwicklungen – iphone, Apps und intelligente technische Geräte die uns umgeben, die heute einen großen Anteil unserer Zeit und unserer Aufmerksamkeit bündeln. In den 1990er Jahren gab es in Japan die Tamagochis, 2005 launchte Tencent QQ Pet – ein kleines digitales Haustier, um das man sich kümmern musste. Wenn man ihm keine Aufmerksamkeit schenkte, wurde es krank und starb. Heute, 15 Jahre später, beheimaten wir im übertragenen Sinne Dutzende solcher Tamagochis und QQ Pets in unseren digitalen Konvergenz-Geräten: Mails, Kalender, Facebook, Instagram, Whatsapp und so fort. Das bedeutet, dass, wer mehr Funktionen in einem Produkt bündelt, auch die Kontrolle über unsere Zeit und unseren Willen übernimmt. Neue, digitale Anbieter haben neue Touchpoints und neue Konvergenzen geschaffen, alte Machtpositionen z.B. der Musikverlage zerschlagen und bestimmen nun die neue Ordnung der Dinge.
Zurück zu meinem Geldbeutel. Sarah-Joans Ordnungssystem hat mich sofort überzeugt und führte zu einer „Divergenz“ meines hässlichen Skater-Geldbeutels. Seither trage ich in meiner Handtasche unterschiedliche kleinere Täschchen mit mir herum, jedes schlank auf eine Funktion reduziert. Es fühlt sich seltsam leicht und befreiend an. Übertragen auf die digitale Welt in meinem Konvergenz-Tool habe ich in letzter Zeit angefangen, zentrale Funktionen von meinem iPhone zu divergieren, um wieder ein Stück weit Herr über meine Zeit zu werden: eine Apple Watch am Handgelenk übernimmt einige iPhone-Funktionen, die ansonsten unhöflicherweise ein Gespräch unterbrochen hätten (Lies meinen Beitrag Staying sane in the digital age: Why I wear the Apple Watch). Keine Social Media-Apps mehr – kann man ja auch auf dem Desktop machen. Oder am besten gleich ganz aufhören. Und ich überlege ernsthaft, mir wieder ein Filofax zu kaufen – für die Millenials: ein Papierkalender.