Warum wir nur im Analogen Entschleunigung finden
Haben Sie auch schon öfter Ihr Smartphone in die Hand genommen, um irgendetwas nachzusehen, und dann später bemerkt, dass Sie bereits vergessen haben, was es war? Oder hat Ihr Kind schon mal versucht, an der Glasscheibe eines Aquariums die Fische anzuklicken und wegzuswipen? Dann hat die Digitalisierung anscheinend auch schon Ihr Realitätsempfinden aufgespalten. Die Welt ist dadurch nicht mehr nur das, was sie zu sein scheint; tatsächlich leben wir bereits in einer echten Welt und in einer digitalen. Wir verlassen das Haus gar nicht mehr, sondern bestellen Essen bei Lieferando und streamen abends Netflix. Wir nehmen das Handy mit aufs Klo, ins Schlafzimmer, zum Essen, beim Autofahren und vor den Fernseher. Diese gespaltene Realität betrifft auch und vor allem: unsere Kinder. Statt der gemeinsamen Familienrealität rendert das Internet um jeden eine eigene, algorithmisch errechnete Reality Bubble. Schon lange haben wir das Gefühl, dass wir zu unseren Kindern in ihren Online-Welten gar nicht mehr durchdringen. Die digitale Realität ist in unseren Familienalltag gesickert, spätestens seit dem Lockdown ist alles mit allem verschmolzen, mit einem gemeinsamen Nenner: alles findet online statt. Schule, Freunde treffen, Gaming, Social Media.
Es ist ermüdend: Wir, die Elterngeneration, haben die Verantwortung für den Zugang zur digitalen Welt aufgebürdet bekommen – und das in unseren vollgepackten, ebenfalls durchdigitalisierten Leben als Working Parents und Remote Worker. Manchmal sind wir verzweifelt und fühlen uns gegenüber den ausgeklügelten, Dopaminsucht auslösenden Algorithmen und Dark Patterns machtlos – obwohl uns die Digitalisierung auch viele Freiräume eröffnet hat. Was also tun? Wie so oft gibt es keine einfachen Antworten im Digitalzeitalter, keine „10 Tipps für Digital Detox“, und keine tollen Ratschläge wie „einfach mal das WLAN abschalten“. Aber vielleicht müssen wir anfangen, uns darauf zu besinnen, was wirklich wichtig ist. Was wirklich zählt. Denn diese Dinge liegen in unserer Hand! Und: Best things in life are free. Hier drei zentrale Denkanstöße:
1. Rückeroberung des Denkens
Wir optimieren per App unseren Schlaf, unsere Fitness, unsere Partnersuche, unsere Ernährung, unser Aktienportfolio, wir tracken unsere Schritte, lesen rund um die Uhr News, bearbeiten Kalender und E-Mail Inboxen und scrollen durch endlose Instagram-Feeds – aber was unser Denken betrifft, das langsame, tiefe Denken, da sind wir sehr nachlässig. Da hilft keine App. Eine wichtige philosophische Leitlinie, über die sich der Mensch des 21. Jahrhunderts definiert, scheint zu sein: »Du bist, was du isst.« Was wäre, wenn wir uns mit der gleichen Besessenheit um unsere geistige Nahrung kümmern würden: »Du bist, was du denkst.« Und deshalb genau überlegen, womit wir unseren Kopf füttern.
2. Wiederentdeckung der Kreativität
Vielleicht sollten wir wieder lernen, mit unseren Gedanken alleine zu sein. Wenn uns im Digitalzeitalter eines abhanden gekommen ist, dann das. Wir Kinder des Digitalzeitalters sind nie wirklich gedanklich alleine, wir sind vernetzt, wir sind »on«, wir sind im Zoom, wir teilen und folgen und pinnen und liken. Aus unseren Poesiealben sind Instagram Accounts, aus Tagebüchern Blogs, aus Skizzenbüchern Evernote geworden – und somit eine permanente Öffentlichkeit. Den ganzen Tag prasseln Fetzen von digitaler Kommunikation herein, die eine sofortige Reaktion erfordern. Wir agieren nicht, wir reagieren nur. Unsere eigene Stimme hören wir in diesem babylonischen, digitalen Stimmengewirr schon lange nicht mehr. Die jedoch ist die Voraussetzung dafür, dass ein neuer Gedanke entstehen kann und somit: Kreativität.
3. Langsame Weisheit – statt schnelles Wissen
Nehmen wir das Tempo unseres Lebens wieder in die Hand! Zücken wir nicht sofort das Handy und googlen reflexartig, wenn wir Dinge nicht wissen oder schnell eine Information brauchen? Das Internet ist ein riesiger Referenzraum für Informationen – aber nicht für tiefes Wissen, Weisheit und Wahrheit. Diese sind langsamer getaktet. Genauso schnell wie ich googele, bekomme ich spiegelbildlich auch die Antwort: ein Kochrezept für Zucchinisuppe, wie sich das Gesicht von Meg Ryan in den letzten Jahren durch Botox verändert hat, oder was »Fehler E23« auf dem Display meiner Siemens-Waschmaschine bedeutet. Schnelle Frage, schnelle Antwort. Ganz anders ein Buch: Weil es sowohl von der Autor/-in, als auch von der Leser/-in einen Zeiteinsatz einfordert. Und zwar zeitversetzt: Erstere hat die Zeit investiert, das Buch zu schreiben. Zweitere entscheidet sich, ihre Zeit zu investieren, um sich mit der Sache auf einer tieferen Ebene auseinanderzusetzen. Und das geht am besten: in einem Buch.