Der 1. Mai ist Tag der Arbeit! Anlass genug, mal wieder eine Zwischenbilanz zu ziehen, was genau wir im Digitalzeitalter eigentlich unter Arbeit verstehen – Julia Peglow aka jpeg über das ewige Rätsel gespaltener Realitäten und die neuen Jobs »below the API«.
Liebes digitales Diary,
verstehst du die Welt? Was mich betrifft: ich verstehe sie immer weniger. Es gibt da ein Rätsel, das mich schon lange umtreibt. Das ist das Rätsel, dass unsere Welt in Wirklichkeit aus zwei Parallelwelten besteht. Die eine, offensichtliche, ist die physische Welt, mit allem, was uns umgibt: Die Dinge auf unserem Schreibtisch, Werkzeuge, Geräte und Geschirre in unserer Küche. Alles in der physischen Welt gibt uns das beruhigende Gefühl, dass wir es sehen und anfassen können, z.B., um mit diesem Ding oder Werkzeug bestimmte Tätigkeiten auszuführen. Und lange hat sich ja auch ein ganz wesentlicher Bestandteil unseres Lebens in dieser Welt abgespielt: die Arbeit. Lange war Arbeit vor allem eine physische Angelegenheit.
Das wäre alles hübsch übersichtlich, gäbe es da nicht noch diese zweite Parallelwelt. Das ist eine Welt, die irgendwie nicht wirklich existiert, zumindest kann man sie nicht sehen oder anfassen. Denn sie existiert nur in unserer Vorstellung. Das ist die Welt der Gedanken und Ideen – die virtuelle Welt. Und obwohl man sie weder vor Augen sieht, noch sie mit den Händen greifen kann, ist sie auf eine rätselhafte Art und Weise noch viel stärker und mächtiger als die physische Welt. So wie in dem Sprichwort: »Der Glaube versetzt Berge.«
Vom Industrie- zum Wissenszeitalter
Offensichtlich geht es nicht nur mir so: Die rätselhafte Zweigeteiltheit der anfassbaren Welt und dem geistigen Bedeutungsraum ist nicht umsonst eine der großen Streitfragen in der Philosophie, und das schon seit der Antike: das sogenannte Körper-Geist-Problem, das Platon 400 v.Chr. genauso umtrieb wie René Descartes, einen Vordenker des Rationalismus, mehr als tausend Jahre später. Jetzt fragst du dich vielleicht, was das mit der Arbeit zu tun hat.
Genau darin, im Widerspruch zwischen diesen beiden Welten, manifestiert sich der Umbruch vom Industrie- zum Wissenszeitalter. Und die Frage, in welcher dieser Welten sich eigentlich heute unsere Arbeit abspielt. Interessanterweise scheinen sogar wir, die sich für digital versiert und fortschrittlich halten, dies immer noch gerne zu verwechseln und machen Denkfehler bezüglich der Sinnhaftigkeit, in welcher Welt welche Arbeit wohl am besten zu erledigen ist. Oder wie ist es sonst zu erklären, dass wir vor gar nicht allzu langer Zeit, vor der Pandemie, jeden Tag ins Büro gefahren sind, um den ganzen Tag E-Mails zu bearbeiten? Oder um die Welt geflogen sind, für Business Meetings, in denen sowieso alle nur ihre Mails gecheckt haben – wenn man das alles auch online hätte erledigen können?
Davon mal abgesehen lässt uns die virtuelle Tätigkeit manchmal mit einem merkwürdigen Hunger nach echten Taten zurück – streift dich nicht manchmal eine Ahnung, dass du zwar den ganzen Tag am Computer gesessen hast, und trotzdem abends gar nicht mehr weißt, was du eigentlich getan hast? Dass du Gefühl hast, kein echtes Tagwerk vollbracht zu haben (was für ein schönes Wort! Eines aus der alten Arbeitwelt)? Und: Wenn wir den ganzen Tag mit E-Mails und Zoom-Calls beschäftigt sind – wann ist eigentlich Zeit zum arbeiten?
Als Gesellschaft haben wir im Digitalzeitalter eine neue Evolutionsstufe erklommen. Wir haben eine neue Welt gebaut, nicht mehr mit physischer Arbeit und physischen Dingen wie Werkhallen, Maschinen und Büros; sondern die virtuell funktioniert; in der Unternehmen im Kopf entstehen, in der die Assets aus Knowledge und Intellectual Property sind – und demzufolge die Arbeit auch nicht mehr nur in der echten Welt, sondern online, virtuell und remote stattfinden kann. In der der physische Ort genauso unwichtig wird wie die gesamte terrestrische Ordnung. Und trotzdem haben wir uns in der Pandemie vermisst, das Miteinander, den Austausch, diese merkwürdige, unsichtbare Energie, die zwischen Menschen in der echten Welt entstehen kann – aber niemals im Zoom-Call.
Das obere Ende der Fresskette
Dieser Umbruch hat natürlich auch gewaltigen Einfluss auf die Hierarchien und Hackordnung der Berufe. An der Spitze der Nahrungskette standen auch schon früher diejenigen Berufe, die mit abstrakten Strukturen und unsichtbarem Wissen hantierten – Steuerberater, Juristen, Philosophen, Kleriker, Sterndeuter – die eben auf Grund ihrer geistigen Tätigkeit über hohes Ansehen, große Einflussbereiche und wohlgehütete Privilegien verfügten (anders als die Bauern und Knechte, die im Schweiße des Angesichts ihre körperliche Arbeit auf den Feldern zu erbringen hatten). Entsprechend waren die Datenträger für dieses abstrakte Wissen lange das geschriebene Wort, die Zahlen und die Bücher. Bis, ja bis die digitale Speicherung und Übertragung mit Lichtgeschwindigkeit auf der neu entstandenen »Datenautobahn« (so ein 90ies Wort!) diesem abstrakten, geistigen Rohstoff des Wissens zu seinem endgültigen Durchbruch verhalfen.
Der Mensch erfand endlich eine neue Realitätsebene, die die geistige Heimat, die ideale Speicherplattform des abstrakten Wissens werden konnte, viel effizienter als Steintafeln, Papyrus und Buchseiten; und auf der er fortan die unsichtbare, die körperlose Welt, das Wissen, speichern konnte: digitale Daten. Anders als die Steintafeln, in die die Sumerer ihre Steuereinnahmen ritzten und so das erste Speichermedium der Menschheit erfanden, ermöglichte die Digitalisierung eine exponentielle Zunahme von Verarbeitungsgeschwindigkeit, Brainpower, Wachstumraten, User Growth.
Zeitalter der Nerds und Geeks
In der Arbeitswelt des Digitalzeitalters haben wir mittlerweile gewaltige, kristalline Strukturen geschaffen, die allesamt unsichtbar und nicht anfassbar sind: Software, Datenbanken, Algorithmen. Berufe, die diese Strukturen entwickeln und kontrollieren, haben in der Arbeitswelt des Digitalzeitalters die Hebel in der Hand. Ohne die Digitalisierung wäre es nie möglich gewesen, dass sie so stark wurden. Dieses gekippte Ökosystem stellte neue Machtverhältnisse her – wie die Folgen des Meteoriteneinschlags, die die Dinosaurier verdrängten und den Säugetieren zum Durchbruch verhalfen.
So katapultierte das Digitalzeitalter einen ganz neuen Menschenschlag an das obere Ende der Fresskette: Nicht mehr die erfolgsverwöhnten, perfekten High-School- Sportler, aus denen Anwälte, Ärzte, Unternehmensberater oder Politiker wurden. Sondern die Nerds und die Geeks, blasse, dünne Schattengestalten mit dicken Brillen, die früher gemobbt oder bestenfalls ignoriert wurden. Die Streber:innen, die Crazy Ones, die Freaks, Hacker:innen, Hochintelligenten, Jugend-Forscht-Teilnehmer:innen, vielleicht sogar Asperger, Autisten und Soziopathen, aus denen Mathematiker:innen, Informatiker:innen, Programmierer:innen, Coder, Developer – und irgendwann Unternehmensgründer:innen wurden.
Interessanterweise geht parallel in den Berufen mit den alten, geistigen Einflussbereichen die Angst um: Ausgerechnet die Brainpower der privilegierten Berufe – Jurist:innen, Steuerberater:innen, Anwält:innen, Finanzler:innen – muss durch die Digitalisierung befürchten, demnächst effizienter durch künstliche Intelligenzen ersetzt zu werden. Denn je strikter die Strukturen in einem Bereich, je ausgeklügelter die Matrix, je klarer die Abläufe und Regeln, desto einfacher kann Künstliche Intelligenz diese Tätigkeiten übernehmen. Seither geht die Angst um bei den Jurist:innen und Anwält:innen, vom Thron gestoßen zu werden.
Kritisches Denken – above the API
Die wahre Trennlinie der Jobs des Digitalzeitalters definierte vor ein paar Jahren der Silicon Valley-Unternehmer Peter Reinhardt in einem klugen Beitrag auf seinem Blog. Laut ihm teilen sich Jobs in der Zukunft auf in die „Jobs above the API“ und „below the API“ (Application Programming Interface – die Programmieroberfläche). Auf der Gewinnerseite sind die, die den Robotern sagen, was zu tun ist. Auf der Verliererseite die, denen die Roboter sagen, was sie tun sollen. Praktisch übersetzt: Entweder du bist der Dev, der den Lieferando-Code entwickelt, oder du bist einer der Typen, die der Algorithmus mit einer riesigen Thermobox auf dem Rücken auf dem Fahrrad im Regen kreuz und quer durch die Stadt schickt. Die Frage des Digitalzeitalters, die sich jeder, nicht nur auf dem Arbeitsmarkt, sondern auch in seinem Leben, stellen sollte, ist: Denkst du noch above the API? Oder kontrolliert dich schon die KI below the API?
Einen Dopplereffekt bringt die Tatsache mit sich, dass strukturell in genau diesen Entscheiderrunden above the API, genau da, wo Algorithmen entwickelt werden, oft jemand fehlt: der menschliche Geist. An diesen runden Tischen sitzen die Betriebswirt:innen, Ingenieur:innen, Programmierer:innen, Jurist:innen, Big Data Analyst:innen, Futurist:innen und UX-Designer:innen, allesamt vereint durch eine mono-kausale und technokratische, zukunftsbegeisterte Denkweise. Wer fehlt, sind die Geisteswissenschaftler:innen; die Vertreter des seit der Aufklärung praktizierten, kritischen, selbständigen Denkens: die Humanist:innen, Soziolog:innen und Philosoph:innen. Die im technologischen Diskurs die Frage vertreten, was richtig ist und was falsch. Und wie wir eigentlich leben – und arbeiten wollen.
Good Reads
- Eine mehrdimensionale, philosophische Sichtweise, die der Business-Welt ab und zu gut täte: Peter F. Drucker, »Post Capitalist Society«
- In diesem Klassiker des Wissenszeitalters aus dem Jahr 1966 wird erstmals die Linie gezogen – zwischen implizitem und explizitem Wissen: Michael Polanyi, »The Tacit Dimension«
- Dieser Weltbestseller von 1995 ist bis heute lesenswert, um die größeren Zusammenhänge der wirtschaftlichen und technologischen Entwicklung zu verstehen: Jeremy Rifkin, »Das Ende der Arbeit«