Dieser Blogpost erschien als erstes im Online Bookazine und Bookstore VINCENT & VOLTAIRE unter dem Titel »Warum das Buch noch lange nicht tot ist. Ein neues altes Manifest«, als zweite Kolumne unseres gemeinsamen Symposiums 2022
Seit fünfundzwanzig Jahren diskutieren wir das Ende der Bücher – seit das Internet langsam aber sicher die Rolle der Universalbibliothek, als Informationsspeicher der Menschheit, übernahm. Aber irgendwie ist das Buch immer noch nicht tot. Irgendetwas scheint der Tausend Jahre alte Datenträger an sich zu haben, dass er, anders als Schallplatten oder CDs, immer noch wacker die Stellung hält.
Anlässlich des „Welttags des Buches“ stellt Julia Peglow Überlegungen an, ob wir hierbei, wie so oft, Mittel und Zweck verwechseln. Sollte die Frage nicht andersherum lauten: Wo findet der Mensch Antworten auf seine große Fragen? Wo findet er, in der Kleinteiligkeit des Alltags, eine große Perspektive? Wo findet er im Kosten-Nutzen-Denken der modernen Welt die Ebene der Bedeutung? Wo kann er in einer Welt, in der mittlerweile alles eine Datenspur hinterlässt, mit seinen Gedanken alleine sein? Und auf einmal können wir uns dem Thema der Daseinsberechtigung der Bücher von der anderen Seite nähern.
Das langsam getaktete Medium
Das Internet ist so verführerisch, weil es schnelle Antworten liefert. Wir haben uns so daran gewöhnt, reflexartig zu googeln, wenn wir Dinge nicht wissen oder schnell eine Information brauchen, dass wir es schon fast wie eine outgesourcte Denkkapazität verwendet. Das Internet ist ein riesiger Referenzraum für Informationen, und es ist ein schnelles Real Time-Medium – genauso schnell wie ich googele, bekomme ich spiegelbildlich auch die Antwort: die Öffnungszeiten vom Blumenladen, ein Kochrezept für Kürbissuppe, wie sich das Gesicht von Meg Ryan in den letzten Jahren durch Botox verändert hat, wie ich die Dateigröße eines pdfs komprimiere oder was »Fehler E23« auf dem Display meiner Siemens-Waschmaschine bedeutet. Schnelle Frage, schnelle Antwort.
Was aber ist mit den Fragen, die tiefer gehen? Die nicht so leicht zu beantworten sind? Über die man erstmal eine ganze Weile nachdenken muss, bis man sich sortiert hat, geschweige denn, sie beantworten kann? Also: die wirklich wichtigen Fragen?
Das Medium, in dem Menschen seit tausend Jahren diesen großen, langsamen Fragen nachgegangen sind, sind die Bücher. So sind große philosophische Werke wie Aristoteles’ „Nikomachische Ethik“ entstanden (Was ist die beste Art, ein glückliches Leben zu führen?), Charles Darwins „Vom Ursprung der Arten“ (Wie entstand der Mensch?), Virginia Woolfs „A room on one’s one“ (Was brauchen Frauen, um Literatur zu produzieren?) oder Susan Sontags Essay-Band „On photography“ (Wie verändert das Medium der Fotografie unser Wirklichkeitsempfinden?). Das Wertvolle ist dabei der Zeiteinsatz, und zwar sowohl von der Autor:in als auch der Leser:in. Die Autor:in hat die Zeit investiert, das Buch zu schreiben. Das ist kein leichtes Geschäft und auch nicht mal eben erledigt. Die Leser:in wiederum entscheidet sich, seine Zeit zu investieren, um sich mit der Sache, um die es in dem Buch geht, auf einer tieferen Ebene auseinanderzusetzen.
Ein Buch gibt also der Leser:in die Möglichkeit, sich die Erfahrung eines ganzen Lebens, die Beschäftigung mit einer Frage für mehrere Jahre, in einer relativ komprimierten Zeit zu Gemüte zu führen. Nicht so schnell wie ein Google Treffer, aber immerhin innerhalb weniger Stunden, Tage oder Wochen. Bücher bieten also immer noch und gerade in unseren beschleunigten Zeiten immer einen Zugang zu einer Art Paralleluniversum, in der die Uhren anders gehen. In der ich mich aus der Geschwindigkeit des Digitalzeitalters ausklinken und zum Tempo meiner eigenen Denkgeschwindigkeit finden kann. Wer anders herum nicht liest, macht sich zum fremdbestimmten Sklaven unserer schnell getakteten Zeit.
Das tiefe, mehrdimensionale Medium
Die ältesten Google-Treffer am Boden des Internets dokumentieren die Sichtweise der Menschen Mitte der 1990er-Jahre, die Real-Time- Treffer sind die Breaking News dieser Sekunde. Das also ist alles, was uns der Referenzraum des Internets zu bieten hat? Das bedeutet doch, dass die gesamte, googelnde Menschheit einer extrem eindimensionalen Sichtweise ausgeliefert ist: der Perspektive von etwa zwanzig Jahren – seit Informationen im Internet digital gespeichert werden. Was ist mit allem, was vor dieser Zäsur geschah? Alle analogen Denker, alles analoge Wissen? Das finden wir – trotz Post-Digitalisierungsprojekten wie Google Books oder Google Art Project – nicht beim googeln. Das bedeutet, dass wir uns kollektiv als Generation in einer Zeitblase aus flachem Wissen und begrenzter Perspektive bewegen, die uns umgibt, seit wir mündige Teilnehmer der Erwachsenenwelt sind.
Das Internet ist und bleibt ein Informationsnetzwerk, aber Bücher sind für mich ein Wissensnetzwerk. Zu tieferem Wissen befähigt das Büchernetzwerk auch dadurch, dass es über eine viel gigantischere Zeitspanne entstanden ist und ergo einen viel tieferen Referenzraum beschreibt als das Internet. Bücher gibt es schon seit Tausend Jahren. In Büchern sind die Dinge nicht nur so beschrieben, wie wir sie heute sehen, sondern auch so, wie man sie damals gesehen hat, als das Buch geschrieben wurde. Und durch diese »Wahrnehmungsschere« zwischen gestern und heute tut sich ein neuer Raum auf, aus dem ich manchmal mehr über die Welt lernen kann als aus dem Buchstoff selbst.
Ganz im Gegensatz dazu das flache Wissen im Netz: Es ist lediglich so alt wie mein eigenes Wissen! Denn ich bin so alt wie das Internet. Mein Geburtsjahr 1973 ist bei Wikipedia auf einer der ersten rudimentären Netzwerk-Skizzen des arpanet zu sehen – dem Vorläufer des heutigen Internets. Kein halbes Jahrhundert an Informationen – gegenüber einem Jahrtausend an Weisheit.
Irgendwie hat unsere Wahrnehmung der Welt durch dieses omnipräsente Erklärungsmodell des Internets eine enorm gegenwartsverliebte und verflachte Perspektive eingenommen – wir stellen oberflächliche Fragen und geben uns zufrieden mit den oberflächlichen Antworten, die uns Google, Social Media und die News-Seiten liefern: bruchstückhaft, kleinteilig, extrem verhaftet im Hier und Jetzt. Wir stecken nicht nur in der algorithmischen Echokammer, die uns immer nur die News ausspielt, die unserem Profil entsprechen; das Internet selbst ist unsere Generationen-Echokammer.
Wer liest, lernt, die Dinge aus unterschiedlichen Denk-, Zeit- und Generationenperspektiven zu betrachten – und damit die eigene Sichtweise zu relativieren. Und diese Fähigkeit, die Dinge aus mehrdimensionalen Perspektiven zu betrachten, ist die Voraussetzung für Toleranz und Weisheit.
Das private Medium
Ein weiterer Vorteil der Bücher hat sich erst in der letzten Dekade, herausgestellt, je mehr sich die professionalisierten, kommerzialisierten Strukturen des Internet und der New Economy herausgebildet haben; seit sich das Geschäftsmodell herauskristallisiert hat, dass der wertvollste Rohstoff des Digitalzeitalters die Daten sind. Das Nutzenversprechen, das sie abgeben, die Funktionen und Services, die sie anbieten, sind nicht mehr der eigentliche Zweck. Digitale Tools und die großen Internetplattformen wurden im Laufe der Zeit immer konsequenter auf einen neuen Zweck, ein neues Design-Paradigma ausgerichtet: so viele Daten wie möglich über uns zu generieren. Insofern werden auch alle Medien, die wir konsumieren, entsprechend ausgelesen: Was wir suchen, was uns gefällt, wie schnell wir ein lesen, was wir markieren, wann wir aus dem Stoff aussteigen. Der Algorithmus schaut uns quasi beim Denken zu, um seine Erkenntnisse für seine eigene Agenda weiter zuverwerten.
Diese neue ist also eine Eigenschaft, die Bücher schon seit Anbeginn haben:
Ein Buch ist ein sicherer, privater Ort. Ein sicherer Offline Space, in dem ich in Ruhe denken kann. Einer der letzten Orte auf diesem Planeten, wo ich mir größtmöglichen geistigen Raum eröffne – und dabei keine Spuren hinterlasse.
Das bedeutungsvolle Medium
Die ganze Welt ist immer mehr durchdrungen durch kristalline Strukturen, fragmentiert in Hashtags und Keywords, abgebildet in Messbarkeiten, Zahlen und Daten. Das Internet ist eine riesige Datenbank, die die gesamte Weltinformation in fein ziselierte Einzelteile zerlegt und abspeichert.
Aber wer er führt das alles wieder zusammen? Wer interpretiert die Daten? Wer erklärt das alles? Wo entsteht dabei die Ebene, die wir alle suchen und ohne die alle Fakten nutzlos sind – die Ebene der Bedeutung?
Das kann nur ein Medium, das im Gegensatz dazu alles wieder miteinander verwebt: ein Buch. Ein Buch ist eine Welt. Kein Medium ermöglicht es, sich so tief mit einer Sache auseinanderzusetzen. Ein Buch kann den Blick auf die Welt verändern. Ein Leben verändern. Die großen Fragen beantworten. Bücher sind ein Bedeutungsmedium.
Bücher haben sich seit Tausend Jahren nicht so sehr verändert. In einer Zeit, in der permanent Fortschritts- und Innovationszwang herrschen, sind sie immer so geblieben sind, wie sie waren – nur dass sich ihre Haupteigenschaften im neuen Kontext als besonders wertvoll erwiesen haben. Eine gewisse Stoik kann man ihnen also nicht absprechen. Sie haben’s also einfach „ausgesessen“.
Eines ist klar: wenn die Menschheit aufhört zu lesen, hört sie auf zu denken. Und wenn sie aufhört zu denken, schafft sie sich selbst ab.