von Luca Pot d’Or
Dieser Artikel erschien am 11. März 2019 auf ZEIT Online
Selbstbestimmte Arbeitswelt: Die Festanstellung in der Identitätskrise?
Die Zahl der Selbstständigen in Deutschland nimmt kontinuierlich zu. Flexibilität, Selbstbestimmtheit und Unabhängigkeit bei der Arbeit werden im Zuge der Digitalisierung zu prägenden Werten – und die Identifikation mit dem Arbeitgeber nebensächlich. Wie können sich Unternehmen auf diesen Trend einstellen?

Vor rund einem Jahr hat sich Julia Peglow selbstständig gemacht – und sich damit von festen Arbeitszeiten, Hierarchien und Strukturen verabschiedet. Mit Erfolg: Heute beschäftigt sie als Bloggerin und Beraterin noch zwei weitere Mitarbeiter. © Luca Pot d’Or
Die Arbeitswelt wandelt sich. Kaum mehr zu ignorieren sind die Zahlen, die den Deutschen ein wachsendes Verlangen nach Selbstbestimmtheit im Job attestieren. Rund 1,4 Millionen Selbstständige gibt es aktuell in Deutschland – die Anzahl hat sich seit der Jahrtausendwende verdoppelt. Im Umkehrschluss verlieren viele Unternehmen Leistungsträgerinnen und Leistungsträger, die auf der Suche nach Freiheit aus dem Angestelltenverhältnis ausbrechen. Wie können Unternehmen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor diesem Hintergrund auch in Zukunft erfolgreich an sich binden?
Als beste Motivation für Angestellte galt lange Zeit die Identifikation mit den Arbeitgebern – doch die ist heute keine Währung mehr. Ein familiäres Teamgefüge, die Tradition des Unternehmens oder die gängigen Floskeln in Stellenanzeigen spielen mittlerweile eine weniger wichtige Rolle. Dies ist einerseits auf die jungen in den Arbeitsmarkt drängenden Generationen und ihren Wunsch nach Selbstverwirklichung zurückzuführen. Andererseits ist auch der Arbeitsmarkt selbst ein Grund für diese Entwicklung: Befristete Verträge und eine immer kürzere Verweildauer im Betrieb stehen der Identifikation im Wege.
Angst vor der Selbständigkeit
Ein Blick auf die nackten Zahlen offenbart, dass die Selbstständigkeit gar nicht die präferierte Lösung ist. Denn die Angst vor finanziellem Risiko, zu hoher Belastung und Verantwortung ist unverändert hoch. Angestellte suchen insbesondere dann den Weg in die Selbstständigkeit oder entscheiden sich zum Wechsel der Arbeitsstelle, wenn sich dadurch die individuelle Lebenssituation verbessert.
Zunehmend sind nicht mehr die Arbeitgeber selbst und damit der Name und der Ruf der erste Grund für die Bewerbung, sondern das eigentliche Jobprofil und die Rahmenbedingungen. Immer weniger Berufsneulinge nehmen Überstunden und Unterbezahlung kommentarlos in Kauf. Und auch erfahrene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in leitenden Positionen sind heute viel schneller bereit zu beruflichen Veränderungen, wenn sie merken, dass es im Job und dadurch im Privatleben hakt. Der Weg zur Kündigung ist kürzer als noch vor einem Jahrzehnt.
Digitales Nomadentum
Julia Peglow, die diesen Weg gegangen ist, arbeitet heute komplett selbstständig, ortsunabhängig und vor allem digital. An der Spitze des Trends sitzen sogenannte Digitale Nomaden irgendwo auf der Welt vor ihren Laptops und wählen ihren Arbeitsort nach der Stärke des WLAN-Signals aus. „Die Digitalisierung hält für die ganze Arbeitswelt so viel Potenzial bereit – doch die meisten Arbeitnehmer profitieren kaum davon! Die Strukturen sind einfach noch nicht flexibel genug“, sagt Peglow. Vor rund einem Jahr wurde die 45-Jährige zur „Digitalen Nomadin“: „Ich war früher schon lange selbstständig, habe aber später auch lange aus Überzeugung als angestellte Geschäftsführerin gearbeitet, weil ich mich in der Tiefe für ein Unternehmen engagieren wollte. Schwierig wurde es immer dann, wenn ich mich mit meinem Unternehmen nicht mehr identifizieren konnte. Die Erfüllung dieses Bedürfnisses nach Identifikation fand ich erst nach der Kündigung – in meinen eigenen Ideen, Projekten und Strukturen.“
Als Kreativ-Beraterin für Unternehmerinnen und Unternehmer und als Bloggerin verdient Peglow heute nicht nur ihren Lebensunterhalt, sondern beschäftigt auch noch eine weitere Mitarbeiterin. „Wir haben kein Büro und keine festen Zeiten – es sei denn natürlich bei Kundenterminen oder wir verabreden uns gezielt“, so Peglow. „An unseren Projekten arbeiten wir komplett in der Cloud.“ Flexibilität ist für sie essenziell, um kreativ und produktiv zu sein. „Ich beschäftige mich intensiv mit dem Wandel der Arbeitswelt, den die Digitalisierung gerade stark vorantreibt“, erzählt sie. „Es ist wahnsinnig spannend, zu sehen, wie sich die Arbeitsweise und die individuelle Interpretation von Arbeit außerhalb etablierter Strukturen verändern.“
Aber reicht die Lockerung der Strukturen, um Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Angestelltenverhältnis zufriedenzustellen? „Was uns beide bei unserer Arbeit eint, ist unsere gemeinsame Mission. Wir stehen gemeinsam hinter einer Idee und leisten beide unseren Beitrag zum Erfolg. Ich vertraue meiner Kollegin – und ich glaube, das Vertrauen ist der Nährboden für ihre kreative Arbeit“, berichtet Peglow.
Flexible Arbeitsmodelle für veränderte Ansprüche
Zwar ist das Modell von Peglow und ihrer Angestellten nicht ohne Weiteres auf größere Unternehmen übertragbar, doch solche Konstellationen werden die Arbeitswelt in Zukunft stärker prägen. Weniger Strukturen, weniger Kontrolle, dafür viel Freiraum, Vertrauen und gemeinsame Ziele – all das kann den Leistungswillen und die Motivation der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter fördern, wie Studien belegen.
Es gilt nun für Unternehmen, auf die veränderten Ansprüche der Angestellten einzugehen – und das hängt stark von dem jeweiligen Betrieb und der Branche ab. In der IT-Branche ist flexibles Arbeiten viel eher möglich als in Branchen mit direktem Kundenkontakt. Sich von Strukturen zu lösen heißt nicht, Strukturen vollständig aufzulösen. Vielmehr müssen Arbeitnehmer und Arbeitgeber mit ihren Ansprüchen und tatsächlichen Möglichkeiten der Umsetzung individuell zueinanderfinden. Arbeitgeber können in Mitarbeiterumfragen oder Feedback-Gesprächen die Stimmungen und Haltungen zu diesen Kernthemen abfragen. Andersherum müssen sich Angestellte bei den Vorgesetzten mit konkreten Wünschen Gehör verschaffen – entweder in persönlichen Gesprächen oder über den Betriebsrat in größeren Betrieben. Erst wenn ein beidseitiger Erwartungsabgleich stattfindet, können beide Parteien gemeinsam von den Chancen und dem Potenzial der Digitalisierung profitieren.
Identifikation kann wieder ein wesentlicher Faktor für die Mitarbeiterbindung werden. Denn einen Trumpf haben die Unternehmen nach wie vor in der Hand: Finanzielle und soziale Sicherheit im Angestelltenverhältnis bleiben auch in heutigen Zeiten ein zentraler Faktor auf dem Arbeitsmarkt. Sicherheit, gepaart mit Vertrauen in die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, und eine gewisse Flexibilität der Arbeitsmodelle fördern auch die Identifikation. Die Kommunikation ist hier wesentlich: Fühlen sich Angestellte ernst genommen und wertgeschätzt, identifizieren sie sich nicht nur stärker mit dem Arbeitgeber oder der Arbeitgeberin, sondern sind schlussendlich auch leistungsfähiger, produktiver und nicht zuletzt auch glücklicher bei ihrer Tätigkeit.