Im ersten Moment denkt man noch »wieder so ein beknackter Trend-Begriff, mit dem plötzlich alle um sich schmeißen«, und im nächsten wird man schon eines Besseren belehrt. Im Kontext der Frage, welche Lebens- und Arbeitsstrukturen in unserer Zeit (noch) Sinn ergeben, suchte ich kürzlich nach der tieferen Bedeutung von »New Work«. Und stieß dabei auf Frithjof Bergmann, den Schöpfer des Begriffs, und sein Buch »New Work, New Culture« (deutscher Titel: »Neue Arbeit, neue Kultur«). Ab der ersten Seite kam ich beim Lesen nicht mehr aus dem Staunen heraus.
Eine bildgewaltige Sprache und »New Work« als Vision für das postindustrielle Zeitalter
Neben der Tatsache, dass Bergmann ein hervorragender Rhetoriker ist und auch beim Schreiben so starke Bilder verwendet, dass das Lesen eine Freude ist, hält das Buch sehr viele Überraschungen bereit. Zum Beispiel, dass »New Work« nicht nur keine neue Idee ist, sondern dass sie nicht mal aus dem 21. Jahrhundert stammt, um es ganz dramatisch zu formulieren. Frithjof Bergmann, seinerseits ein österreichisch-US-amerikanischer Philosoph, der unter anderem Lehraufträge in Stanford und Berkeley hatte und mit rüstigen beinahe 90 Jahren heute noch Vorträge zum Thema hält, hat den Begriff bereits in den 80ern ins Leben gerufen. Gleichzeitig heißt »New Work« nicht etwa, dass man heute nicht mehr im Büro sitzen, sondern mit seinem Laptop auch im Café arbeiten kann. Der Ansatz dreht sich vielmehr um die Frage, wie radikal sich unser Leben und Arbeiten seit dem Siegeszug von Computern, Robotern und Internet verändert und welche neuen Strukturen wir in unserer Gesellschaft brauchen, um diese Veränderungen zu bewältigen. Dabei sind schon seine frühen Thesen so scharfsichtig, dass man sich unentwegt fragt: Wie kann es sein, dass für unsere Zeit derart relevante Gedanken erst heute einem breiten Publikum bekannt werden? Hier kommt wohl einmal mehr ein Phänomen zum Tragen, dass sich im Laufe der Geschichte permanent wiederholt: Die Welt kann mit ihren Visionären einfach nicht Schritt halten. In diesem Fall hat sie 40 Jahre gebraucht, um Frithjof Bergmann einzuholen.
Wie Wirtschaft und Jobsystem unsere Götter wurden: Von der Industrialisierung über die 68er bis heute
»Viele Menschen erfahren ihre Arbeit als eine Art milde Krankheit. … Über eine Erkältung sagt man, dass sie in zwei Tagen vorübergeht. Im Falle der Arbeit sagen wir: Es ist schon Mittwoch; bis Freitag halten wir das schon noch aus.«, schreibt Bergmann treffend. Aber obwohl jeder diesen Satz sicher schon dutzendfach gesagt oder mindestens gehört hat, ändern wir nichts an der Art, wie wir arbeiten. Nur: Warum nicht? Immerhin läuft man ja (außer vielleicht tatsächlich in den 80ern) nicht in zu engen Hosen herum, die einem den ganzen Tag die Luft abschnüren. Man würde ein zu enges Kleidungsstück ablegen und gegen eines tauschen, das einem mehr Freiraum lässt. Natürlich ist es nicht ganz unproblematisch, einen Arbeitsplatz mit einer Klamotte zu vergleichen. Aber trotzdem: obwohl es die Lohnarbeit, wie wir sie kennen, erst seit der industriellen Revolution gibt, ist die absolute Mehrheit von uns überzeugt, dass unsere aktuelle Jobkultur die einzig wahre Art der Arbeit ist. Woher diese Überzeugung (man möchte beinahe sagen: dieser Brainwash) kommt, erklärt Bergmann in einem knackigen Abriss der Entwicklung der Arbeit von der Industrialisierung bis heute: Von der Einführung der ersten Jobs in den Fabriken, wodurch aus Selbstversorgern Menschen wurden, die nicht mehr für sich arbeiteten, sondern für ein übergeordnetes Konstrukt, das sie nicht mehr ganzheitlich begreifen konnten. Über das Scheitern der Kommunisten, die den Drang des Menschen, Dinge besitzen zu wollen, unterschätzt hatten. Und das kurze Aufblitzen einer alternativen Kultur in den 68ern, die Mangels einer klaren Vision oder eines Systems, in dem diese Kultur hätte gedeihen können, so schnell einging, wie sie aufgekeimt war. Bis hin zum totalen Sieg des Kapitalismus und somit der Wirtschaftsform, die vollständig auf der heutigen Jobkultur basiert – und die heute längst zur alles beherrschenden Macht aufgestiegen ist.
»Armut der Begierde«, Bore-Out und die Suche nach dem Sinn – Warum wir nur wissen, was wir müssen
In dem Leben, das die meisten von uns aktuell führen, wachen wir morgens auf und wissen ganz genau, welche Dinge wir tun müssen. Was wir dagegen verloren haben, ist die Fähigkeit, uns zu Fragen, was wir eigentlich wollen. Bergmann zieht bei diesem Thema einen recht drastischen Vergleich heran und stellt die These auf, dass das starre Jobsystem, das den Menschen das Gefühl gibt, selbst kaum noch etwas ausrichten zu können, langfristig einen deformierenden Effekt auf den menschlichen Geist hat – und ihn »verkrüppelt wie eingeschnürten Füße einer Geisha«. Den Zustand, eigene Wünsche nicht formulieren und als Antrieb für das eigene Handeln nutzen zu können, bezeichnet er als »Armut der Begierde« – und den Schlüssel zur Befreiung aus diesem Zustand sieht er in der Beantwortung der durchaus komplexen Frage, was wir im Kern »wirklich, wirklich« wollen.
Damit hat Frithjof Bergmann sich im Grunde schon früh mit Problemen und Fragen beschäftigt, die uns heute, zumindest in der westlichen Welt, als »Bore-out« geläufig sind und die wir mit Sabbaticals auf Bali zu lösen versuchen: Was der Mensch braucht, ist eben nicht einfach irgendeinen Job als Beschäftigungstherapie. Sondern eine Aufgabe, die ihn Selbstwirksamkeit und Sinn erleben lässt. Vermutlich wären sowohl die indonesischen Inseln als auch die therapeutischen Praxen rund um den Globus nur halb so überfüllt, hätten die Menschen wieder das Gefühl, dass das, was sie tun, irgendeine Art von Bezug zu ihnen oder Bedeutung für sie hat.
»New Work« als ernstzunehmender Gegenentwurf zur Jobkultur? Dezentralisierte Strukturen als Lösungsansatz
Das Ziel, die Arbeit dahingehend zu verändern, dass die Menschen sie wieder als sinnvolle Tätigkeit ausführen können – und zwar mit wirtschaftlichem Erfolg – kann Bergmann zufolge nur durch veränderte Strukturen erreicht werden. Als wichtigsten Lösungsansatz sieht er dabei die Dezentralisierung von Organisationsstrukturen und auch die Dezentralisierung der (High-Tech)-Produktion, die Dank der technischen Entwicklung heute möglich ist (in den 80ern war Bergmann mit seinen Ideen den technischen Möglichkeiten teilweise noch voraus). Bemerkenswert ist, das Bergmann von Anfang an nicht nur, wie man meinen könnte, von “linken Idealisten” unterstützt wurde. Die “New Work” Ideen wurden in den Chefetagen der führenden Unternehmen rund um den Globus vorgestellt – und durchaus auch von einigen Managern auf den Führungsebenen begrüßt, die erkannten, dass “die heutigen riesigen Konzerne mit ihren babylonischen Strukturen und vertikalen Hierarchien” die Möglichkeiten, die neue Technologien bieten, nicht optimal nutzen können.
“Die Informationstechnologie macht diese Hierarchien unnötig und ersetzt sie durch effizientere und schnellere horizontale Strukturen.”
Und mit dieser Feststellung liefert Bergmann auch schon die Antwort auf die Frage, die mich umtrieb, als ich sein Buch entdeckte: Was wir brauchen, sind horizontale, flache Strukturen – und somit Strukturen, die uns helfen, die Dinge um uns herum wieder ganzheitlich zu verstehen und selbst zu beeinflussen. Ob oder wann wir dadurch eine neue Form der Wirtschaft schaffen können, wie Bergmann hofft, bleibt natürlich offen. Aber die Erkenntnis dessen, was Möglich ist, ist ein erster Schritt. Und in dieser Hinsicht ist die Lektüre von “New Work, New Culture” durchaus ein Augenöffner.