Wie unausgereift und unintelligent unsere Kooperationssysteme im Straßenverkehr heute noch sind, habe ich gestern mal wieder in einer Verkehrssituation erlebt.
Ich bin mit dem Auto in eine enge Einbahnstraße in der Nähe der Münchner Uni hineingefahren, die an der nächsten Kreuzung durch ein liegen gebliebenes Müllauto versperrt war. Auf der Straße stand ein Warndreieck mit der Aufschrift »Panne«. Durchfahrt unmöglich; ein kurzer Austausch mit dem Müllautofahrer ergab, dass es wohl noch eine ganze Weile dauern würde bis er abgeschleppt werden würde. Es gab also keinen anderen Weg als rückwärts zurück.
Mittlerweile waren aber mehrere weitere Autos in die Straße hineingefahren und reihten sich hinter mir auf. Die hintersten sahen, auf Grund eines Lieferwagens und mehrerer SUVs in der Schlange nicht, was vorne vor sich ging, ihnen fehlte die Information, die ich bereits hatte. Und was tut der Autofahrer, wenn es nicht weitergeht? Richtig, er hupt. Wie ich in meinem letzten Beitrag geschrieben habe, scheinen ja alle analytischen, feinsinnigen und empathischen Fähigkeiten des Menschen im Auto sowieso außer Kraft gesetzt. Das wundert auch nicht, denn der Fahrer ist ja in seiner »Zelle« ziemlich von der Außenwelt abgeschirmt. Dieser Mangel an Information ruft in den ältesten Teilen des Gehirns Reflexe hervor, die sich, mangels Alternativen, als Übersprungshandlung in aggressivem, dauerhaftem Hupen (höchstwahrscheinlich begleitet durch Schimpftiraden in der Fahrgastzelle) niederschlagen.
Real Time Traffic Information
Nun ist ja ein modernes Serienfahrzeug (in meinem Fall ein BMW i3) mit allen möglichen Connectivity-Features ausgestattet. Navigation mit Real Time Traffic Information (RTTI) zum Beispiel, die Daten aus Bewegungsprofilen aus dem Mobilfunknetz, GPS-Daten von Flotten, Smartphone Apps und Polizeimeldungen auswertet und mich auf dieser Basis mit Echtzeit-Verkehrsdaten versorgt. Dieses System weiß alles, es kennt das Big Picture und alle Staus der Stadt und zeigt mir diese farbig markiert auf meinem RTTI-Navi oder auf meiner Google Maps App.
Aber was hilft mir all diese Technologie in einer Situation, in der vor mir ein kaputtes Müllauto steht und hinter mir eine Reihe von zehn hupenden Autos, aber das hintere Ende der Schlange nicht weiß, dass der einzige Weg rückwärts heraus geht? Diese Geschichte ist ein wunderschönes Beispiel für die Nachteile eines zentral ausgewerteten Big Data-Informationssystems. Und überhaupt: Ist die Lösung für den Stau, Systeme zu erfinden, die den Stau optimal umfahren?
Was würde eine Ameise tun?
Jetzt kommt der Gedankensprung: Wenn von Menschen erfundenen Systeme offensichtlich nicht funktionieren, kann man sich ja mal nach anderen, dezentral organisierten Beispielen in der Natur umsehen. Zum Beispiel Schwarmintelligenzen und Ameisen (ich zitiere aus Philipp Preuß’ Masterthesis »Come together – Intuition, Freiheit und Resonanz in einem informationsverarbeitenden Organismus«). Ihre Organisationsstrukturen zeichnen sich dadurch aus, dass es keine übergreifende Steuerung gibt, die Informationen sammelt, auswertet, plant und Anweisungen ausgibt. Sondern jede Ameise »entscheidet selbständig situativ vor Ort«. Dadurch stehen die Mitglieder eines Ameisenstaats aus mehreren Millionen Individuen nie im Stau. Vergleich: Unser »Autostaat« zirkuliert auf den Straßen sehr stockend mit knapp 50 Millionen zugelassenen Fahrzeugen in Deutschland (2014 waren es 43 Millionen; lies hier die Quelle, ein lesenswerter Artikel von Alain Veuve: »Die Automobilbranche steht vor dem Abgrund – bald wird sie einen Schritt weiter sein).
Was würde eine Ameise in einer ähnlichen Situation tun? Sie ist – in ihrem dezentralen Schwarmintelligenz-Dasein – mit einigen nützlichen Eigenschaften ausgestattet. Diese sind grob (ich bin keine Ameisenexpertin): 1. der übergeordnete Ameisenalgorithmus »Gehe den gleichen Weg zurück den Du gekommen bist« (warum gibt es diese Funktion eigentlich nie auf dem Navi?). Das hätte den hintersten Fahrer vielleicht schon dazu bewogen, umzudrehen, statt stur und hupend auf seinem Weg zu beharren. 2. Die Pheromone: die Ameise setzt auf ihrem Weg Marker, das heißt, sie zieht eine Duftspur, die verfliegt. Ihre Kollegen sind darauf programmiert, diesem Reiz zu folgen. Die Intensität des Signals, zum Beispiel entlang einer »Ameisenautobahn«, auf der viele Ameisen spazieren und Signale absetzen, informiert also alle nachkommenden Ameisen, dass das der ideale Weg ist. Sobald die erste Ameise auf Grund eines Hindernisses ausweicht, setzt sie eine neue, aktuellere Spur, die alte Spur verfliegt, alle anderen folgen der neuen. Diese indirekten Kommunikation durch das Hinterlassen von Markern an einem Ort nennt man Stigmergie (faszinierend! Als nächstes muss ich mich durch diese Stigmergie-Internetseite arbeiten – ein wunderschönes Relikt aus der Jahrtausendwende). So würde es einer Ameise zum Beispiel nicht passieren, dass sie in eine Straße hineinfährt, aus der schon länger niemand mehr herausgekommen ist.
»Big Data« versus »Das echte Leben«
Das ist schon vergleichbar mit den Datenspuren, die wir beim Autofahren hinterlassen und auf unseren Navis ablesen; der Unterschied ist, dass die Ameisen zwar auch indirekt, aber dezentral und ortsgebunden miteinander kommunizieren, und diese Information noch mit einem Aktualitätsindikator versehen, während wir ja derzeit auf zentrale, übergeordnete Instanzen zurückgreifen. Diese werten Daten aus (die wir ihnen mit unseren Bewegungsprofilen selbst geliefert haben) und liefern uns ein abstraktes Bild der Realität. Wir treten aber dennoch beim Autofahren weder direkt in Kontakt miteinander noch in Kontakt mit dem Ort, an dem wir uns befinden! Situationen wie die mit dem Müllauto markieren für mich die Grenzen von »Big Data«: wenn uns in völlig niederkomplexen Alltagssituationen unsere ganze Technologie auch nicht mehr weiterhilft, das Problem zu lösen.
Man könnte auch sagen, Big Data liefert ein Bild von »indirektem« Wissen; je mehr wir es nutzen, desto mehr verlieren wir »direktes« Wissen und unser Gespür für das echte Leben. Mich beschleicht zum Beispiel auch irgendwie immer ein komisches Gefühl, morgens beim Anziehen die Temperatur in meiner Wetterapp abzulesen (die ja anhand all möglicher Daten aus unterschiedlichen Messstationen errechnet wurde), statt auf die Quecksilbersäule des Außenthermometers zu schauen oder schlicht und ergreifend die Nase aus dem Fenster zu strecken. Genauso wie ich es komisch finde, in einer fremden Stadt in mein Google Maps zu starren auf der Suche nach einem netten Restaurant, statt einfach die Augen aufzumachen.
Ende gut alles gut: Informationsübermittlung zu Fuß
Die Müllauto-Situation habe ich übrigens weder durch Real Time Traffic Information, noch einen Ameisenalgorithmus, noch eine Pheromonspur gelöst. Ich bin ausgestiegen und bin mit klappernden Absätzen die ganze lange Schlange an hupenden Autos zurückgelaufen, habe an ungefähr jedem 3. Auto angehalten, gewartet, bis der Fahrer sein Seitenfenster heruntergelassen hatte, dem etwas erstaunt dreinschauenden Fahrer mitgeteilt, dass vorne ein Müllauto mit Panne die Straße versperrt und die ganze Kolonne sich rückwärts aus der Einbahnstraße herausbewegen muss. Nach einiger Rangiererei ging die Fahrt dann weiter.