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Algorithmus statt Emotion: Es wird Zeit fürs Autonome Fahren

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Negative Gefühlsausschüttungen

München, Mittlerer Ring, morgens um kurz nach acht. Menschen am Rande des Nervenzusammenbruchs. Alles, was die Palette an negativen Gefühlen zu bieten hat, wird auf der Straße und hinter der Metallrüstung mit getönten Scheiben hemmungslos ausgelebt. Ungeduld: »Warum fährt der Idiot nicht endlich??«. Neid: »Pff, den fetten BMW lass ich nicht rein, der soll sich schön hinter mich stellen.«. Wut: »F*** d***! Wie kann man nur so bescheuert sein! Du blödes A***!«. Der Autofahrer ist getrieben durch niedrige Gefühle. Das Weltbild des Autofahrers ist ein egozentrisches: Er nimmt alle anderen Fahrer um sich herum als störende Hindernisse auf seinem Weg wahr. So, wie in dem alten Witz, in dem ein Geisterfahrer im Radio hört: »Achtung, auf der Autobahn A1 kommt Ihnen ein Falschfahrer entgegen«, und er schreit: »Einer?!? Hunderte!!!« Manchmal im morgendlichen Stadtverkehr versuche ich mir bildhaft vorzustellen, wie viele Tonnen Adrenalin da gerade ausgeschüttet werden, wieviel mmHg Blutdruck durch die Blutkreisläufe gepumpt werden. Mit der Energie sollten wir unsere Autos antreiben.

Man muss sich fragen: Wo ist die Güte? Wo die Bescheidenheit? Wo die Gelassenheit? Das Mitgefühl? Die Nachsicht? Die Liebe? Der Kitt, der die Gesellschaft zusammenhält? All diese kulturell und sozial mühsam erarbeiteten Errungenschaften gelten auf der Straße wenig. Woran liegt das?

Die »Ent-Emotionalisierung« des Fahrstils durch Fahrerassistenzsysteme

Das Autonome Fahren gilt als Paradigmenwechsel und ist sicherlich einer der disruptiven Treiber der Automobilindustrie. Wenn man über Roboterautos, Schwarmintelligenz und das Silicon Valley liest, hat man trotzdem manchmal den Eindruck, das sei doch irgendwie alles noch recht weit entfernt. Zumindest hat es nicht viel mit dem eigenen Dasein als Autofahrer zu tun. Dabei sind wir schon mittendrin im Paradigmenwechsel des Autonomen Fahrens! Denn technisch gesehen entwickelt sich das autonome Fahren evolutionär aus den Fahrerassistenzsystemen. Und es ist unglaublich, wie viel Emotionalität und Aggression die heute gängigen und serienmäßig verfügbaren Fahrerassistenzsysteme schon heute aus dem eigenen Fahrstil herausnehmen, durch stoisch ausgewertete Sensordaten.

In meinem BMW i3 ist das heute neben Automatikgetriebe, Stauassistent und automatischem Einparken vor allem der ACC (Abstandsregeltempomat). Die »Smoothisierung« des Fahrstils wird durch den Elektroantrieb und das schwebende Fahrgefühl noch verstärkt. Viele archaische Gefühlsreaktionen sind von dem Moment an gemäßigter, in dem mir Sensordaten und Algorithmen viele Entscheidungen, Aktivitäten und Reaktionen abnehmen und in ein zwar gefühlskaltes, aber insgesamt ausgeglicheneres Fahrprofil umwandeln.

Autonome Fahren

The car is the driver

Seit ich mit diesen Features unterwegs bin, hat sich mein eigener Fahrstil total verändert. Er ist schlichtweg weniger emotional. De facto nehmen mir die Funktionen der Fahrerassistenzsysteme, die gerade mal Level 2 in den sechs Autonomiestufen der Klassifizierung des autonomen Fahrens der Bundesanstalt für Straßenwesen sind, gefühlt ca. 50% der alltäglichen »Fahrarbeit« ab: Geschwindigkeit kontrollieren, Abstand zum Vordermann halten, Bremsen bis hin zur Vollbremsung. Allein diese drei Faktoren zusammen ergänzen sich zu extrem stressreduzierten Fahrerlebnissen. Im zähflüssigen Feierabendstau schwimme ich durch den Abstandsregeltempomat mit, das ganze, mühsame Stop & Go macht das Fahrzeug selbst. Auf der Autobahn hänge ich mich an den Vordermann, stelle batterieschonend 130 km/h im Tempomat ein und befinde mich so im gleichförmig dahinströmenden Reisemodus. Es ist wie im übrigen Leben: Es stellt sich mehr Gelassenheit ein, wenn ich einige Parameter festgelegt habe, die ich fortan nicht mehr selbst entscheiden muss.

Ganz im Gegensatz dazu meine vorherige Erfahrung: Als ich eine Zeitlang mit einem etwas älteren BMW X5 als Geschäftswagen regelmäßig eine längere Autobahnstrecke gefahren bin, war ich immer mit über 200 km/h auf der linke Spur unterwegs. Das ist so ähnlich wie mit Cloud-, Server- oder Smartphone-Speicherplatz, der immer voll ist: denn wenn ich den Platz habe, knalle ich ihn voll. Wenn ich einen schnellen Motor habe, fahr ich ihn aus. Allein auf Grund der Mimik und des Gestus dieser furchteinflößenden Maschine reagierte das Umfeld reflexartig verschreckt und wich aus, in dem Fall auf die rechte Spur. Und ich spiegelte dieses Verhalten: die Reaktion der anderen machte mich selbst überheblich, ich wurde ungeduldig und fing an, mich über Trödler auf der linken Spur zu ärgern.

Autonome Fahren

Wer reitet hier eigentlich wen?

Was sagt uns das? Der Mensch ist schwach. Er neigt dazu, alle Funktionen, die einem das Fahrzeug bietet, auch zu nutzen. Er erfüllt sozusagen die Rolle, die ihm das Fahrzeug zuweist. »The medium is the message«, sagte schon Marshall McLuhan in den 1960er Jahren. Laut dem Medientheoretiker war es das Medium selbst, das den Inhalt und somit den Menschen bestimmte. Übertragen auf das Fahrzeug könnte man sagen: »The car is the driver«. Oder, um auf eine Henry Ford-eske Allegorie mit Pferden zurückzugreifen: Wer reitet hier eigentlich wen?

Von der Froschperspektive zur Schwarmintelligenz

Die Stauforschung beschreibt schon lange, dass die individuelle Aktion eines einzelnen Fahrers, zum Beispiel hektisches, irrationales Spurwechseln auf der Autobahn, viele Kilometer oder Minuten später einen Stau verursachen kann: Die Theorie des Schmetterlingseffekts. In vielen Situationen versucht der einzelne Fahrer, sich selbst zu optimieren und steuert die Lücke in der Nebenspur an, auf der der Verkehr gefühlt immer schneller läuft als auf der eigenen (ein typisches Empfinden des modernen Menschen, ähnlich wie an der Supermarktkasse). Der einzelne Fahrer sieht aber den Verkehr in seiner Gesamtheit nie, auch nicht, dass er Teil oder gar Mitverursacher des Staus ist.

Um den Verkehr (und übrigens auch viele andere Systeme, die der Mensch errichtet hat) in seinem Aufkommen effizienter zu gestalten, brauchen wir definitiv die nächste Evolutionsstufe des Menschen; die, in der er seine eingeengte, von irrationalen Emotionen geprägte Perspektive hinter sich lässt und als Schwarmintelligenz agiert. Mit der Entwicklung der Technologien für das Autonome Fahren haben wir diesen Weg beschritten. Sie ent-emotionalisiert nicht nur den einzelnen Fahrer, indem ihm der Algorithmus wie oben beschrieben Fahrleistung und Entscheidungen abnimmt. Durch die Echtzeit-Auswertung des gesamten »Schwarms« können wir in Zukunft den Verkehr zu gleichmäßigen Strömen optimieren, eine Art übergeordnete, datenbasierte, übergeordnete? oder dezentrale? Intelligenz schaffen, die die Weitsicht hat, die der individuelle Fahrer nie hatte.

Autonome Fahren

Wie Schwarmintelligenz funktioniert, kann man am Vorgehen von Ameisen studieren: Auf diese interessanten Beobachtungen bin ich in meinem derzeitigen Lieblings-Podcast »on the way to new work« gestoßen: Philipp Preuß’ Bachelorarbeit »Come together – Intuition, Freiheit und Resonanz in einem informationsverarbeitenden Organismus«. Jede einzelne Ameise erbringt eine Teilleistung zur Gesamtleistung. Die daraus entstehende Logik nennt man Ameisenalgorithmus. Wenn Ameisen sich einen neuen Weg bahnen, zum Beispiel zu einer frischen Futterquelle, geraten sie nie emotional aneinander, weil sie alle das gleiche Ziel haben: den optimalen Weg zu finden. Auch besitzen sie keine übergeordnete, auf Datenvisualisierung basierte Navigationsinstanz wie Google Maps, die ihnen ein »Big Picture« vermittelt. Ameisen kommunizieren dezentral direkt miteinander. Jede hat ihren Algorithmus, dem sie folgt. Um ihre Kollegen zu informieren, hinterlässt sie eine langsam verblassende Pheromonspur, die verrät, wie aktuell die Information ist. »Und das verrückte: bei Ameisen gibt es nie Stau«, lacht Philipp.

Dieser Blogbeitrag ist ein Auszug aus meinem Buch »Thoughts on the road«, das bald bei BOD erscheint.

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