Aufbruch ins Unbekannte
In unserer durchchoreografierten, durchstrukturierten und vorgedachten Welt, in der es kaum mehr unerschlossene Bereiche und blinde Flecken auf der Landkarte gibt, ist es umso aufregender, auf Reisen zu gehen und sich dem Unbekannten zu stellen (lies hier meine Buchbesprechung »Slow Travel«). Das ewig große Abenteuer zu erleben, wenn sich dir eine Tür auftut, hinter der eine verborgene Welt liegt. Um das zu erleben, muss man nicht mal besonders weit reisen. Du musst dich nur an Bord eines Schiffs begeben, um auf eine Insel zu fahren. Zum Beispiel in Prien am Chiemsee. Zum Beispiel ein Schiff namens Irmgard oder Waltraud. Zum Beispiel, um nach Herrenchiemsee überzusetzen und die unvollendeten Räume auf Schloss Herrenchiemsee zu sehen. Und die moderne Kunst, die dort derzeit im Rahmen des Pop-Up Museums »Königsklasse IV« ausgestellt ist.
Das paradoxe Schloss
Das Schiff ist denn selbst an einem grauen Maimorgen voll mit Menschen aus der ganzen Welt: eine japanische Reisegruppe und beige gekleidete Ehepaare, die mit unterschiedlich eingefärbter Mundart schwäbisch, sächsisch oder norddeutsch reden; Familien mit Kinderwägen und ein paar Russen. Sie steigen aus am Anleger in Herrenchiemsee; und die, die nicht gleich im Shop oder der Schlosswirtschaft am Anleger verschwinden, gehen mit dir die selbe Richtung, den gewundenen Sommerweg zum Schloss entlang. Wenn du jetzt kurz inne hälst, merkst du, dass die Überfahrt übers Wasser dich weit weg von deinem Alltag gebracht und dein Geist sich schon völlig auf das langsamere Tempo der Insel eingelassen hat.
Das Schloss selbst ist denn eigentlich auch paradox: König Ludwig II. baute sein ausladendes Schloss nach dem Versailler Vorbild; nach seiner lange ersehnten Reise nach Frankreich schrieb er, „…wie an einen wundervollen Traum gedenke ich an meine Reise nach Frankreich, das endlich erschaute, angebetete Versailles.“. Versailles jedoch war ein Schloss, das einen Hofstaat von Tausend Leuten beherbergte und von seiner ganzen gebauten Pracht und Botschaft stark repräsentativ und extrovertiert, als Insigne der Macht, angelegt war. Der Bayrische Märchenkönig jedoch baute Schloss Herrenchiemsee anscheinend für sich alleine, als Rückzugsort, fernab vom Trubel der Regierungsgeschäfte, die er sowieso nicht gut leiden konnte, auf einer Insel (ursprünglich war der Bau des Schlosses im Graswangtal in der Nähe von Schloss Linderhof vorgesehen; Projektname übrigens Meicost Ettal, ein Anagramm des berühmten Zitats König Ludwigs XIV., „L’État, c’est moi“).
Das unbewohnte Schloss
Einige Jahre nach Baubeginn stockten die Arbeiten am Schloss auf Grund von Finanzierungsschwierigkeiten; im gleichen Jahr, 1886, starb der König. Er hatte es zu diesem Zeitpunkt nur einige wenige Tage, im September 1885, bewohnt. Der Spiegelsaal, das prachtvolle Schlafgemach, das Badehaus und der Esstisch, der mittels einer Aufzugkonstruktion in den darüber liegenden Speisesaal befördert werden kann – sie waren also nie richtig mit Leben gefüllt. Und sie repräsentieren auch nur die Spitze des Eisbergs: Was ich erst am Tag meines Besuchs lerne, ist, dass die prachtvollen, fertiggestellten Gemächer nur ein Trugbild sind, aufgeputzt wie die 4,5 Kilogramm Blattgold, die in den Innenräumen verarbeitet sind; denn von den 70 angelegten Räumen im Schloss sind tatsächlich nur 20 fertiggestellt. Der größte Teil des Schlosses ist unvollendet.
Der Weltenwechsel
Und so gibt es denn einen eigenartigen, surrealen Moment, wenn sich eine Flügeltür aus den gold- und stuckverzierten Prachträumen öffnet und dir den Blick freigibt auf das, was dahinter liegt: rohe Ziegelwände, ein gigantisches, unverputztes Treppenhaus, zugemauerte Fensterbögen, Markierungen für unterirdische Kamine und 140 Jahre alte Bauskizzen der Handwerker von damals.
Und das macht etwas mit dir, so wie jeder Raum den Geist formt: Die monumentalen Räume sind nicht zu Ende gedacht, sie stellen kein bekanntes Bild dar und verleiten nicht zu voreiligen Schlüssen. In solchen Räumen ist dein Geist befreit und offen – und so ist es kein Wunder, dass es schon früh die Idee gab, in diesen Räumen moderne Kunst auszustellen. 2013 war es soweit: Die „Königsklasse“, ein Pop-Up Museumsprojekt der Pinakothek der Moderne, eröffnete zum ersten Mal ihre Türen, um fortan als Sommerausstellung die Besucher aus der Stadt auf die Insel zu locken. Und auch den Touristen und Besuchern des Schlosses eröffnet sich mit der Königsklasse eine neue Welt, in die sie zufällig hineinstolpern – in den unvollendeten Räumen begegnen sie der ausgestellten modernen Kunst ganz anders als im Museum.
Derzeit ist die Königsklasse IV in den unvollendeten Räumen zu sehen, noch bis Anfang Oktober 2019.
KÖNIGSKLASSE IV. GEGENWARTSKUNST IN SCHLOSS HERRENCHIEMSEE. VON DAN FLAVIN BIS WOLFGANG LAIB
Pinakothek der Moderne
Schloss Herrenchiemsee
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Eintritt
Ausstellung: 6 Euro I 4 Euro ermäßigt
Ausstellung zusammen mit Schlossführung: 11 Euro I 10 Euro ermäßigt
Öffnungszeiten
11.05. – 03.10.2019, täglich 09.00 – 18.00 Uhr
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