Slow Travel, Slow Food, Slow Thinking
Zu einem Buch, das »Slow« im Titel hat, greife ich reflexartig. Vielen Dank, Buchmarkt, dass es immer noch Raum für solche Bücher gibt, denn »Slow Travel – Die Kunst des Reisens« ist ein schöngeistiges, philosophisches Buch über das langsame Reisen, bei dem der Weg das Ziel ist. Aber auch darüber, dass jede Reise auch eine Reise zur Erkenntnis und ein Stück weit zu sich selbst ist. So gesehen enthält dieses Buch einen »großen« Gedanken, dem das Buchcover mit seiner kindlichen Illustration leider nicht gerecht wird, stellt es den Stoff doch naiver dar, als er eigentlich ist.
Aus dem Dunstkreis der Müßiggänger
Dan Kieran ist Engländer und kommt aus dem Dunstkreis von Tom Hodgkinson (»Anleitung zum Müßiggang«) und dessen 1993 gegründetes Magazin »The Idler«. Dieser schreibt auch im Vorwort des Buches sehr treffend, dass »der Müßiggänger eine Abneigung gegen jene Handelsware hat, die heutzutage als Reisen verkauft wird, nämlich den Urlaub. Nicht dass wir den Tourismus per se kritisieren wollen – schließlich ist es angenehm, ziellos durch eine italienische Stadt zu schlendern oder an einem heißen Strand am Meer zu liegen. Doch ein solcher »Holiday in the Sun« hat vielleicht auch etwas Unbefriedigendes an sich, wie die Sex Pistols vor Urzeiten zu bedenken gaben. Er ist ein Trugbild, und ein kostspieliges noch dazu. Er ist eine mickrige Belohnung, ein Trostpreis für jene, die in einem langweiligen Job feststecken. Dasselbe ließe sich von dem überstrapazierten Wort »Erlebnis« behaupten. Anstatt uns dem komplizierten Projekt zu widmen, gut zu leben, neigen wir dazu, uns für ein Dasein in Arbeit und Langeweile zu entscheiden, das von hyperdynamischen »Erlebnissen« unterbrochen wird.«
Das komplizierte Projekt, gut zu leben
Das mit dem komplizierten Projekt »Gut zu leben« ist sehr treffend formuliert und spricht mich sehr an. War ja einer der Gründe für meinen Ausstieg aus dem Festangestelltendasein vor allem, meinen Tag anders strukturieren zu können, aus dem 9 to 5-Korsett (wenn es denn mal »5« gewesen wäre) auszubrechen und meine Zeit anders und selbstbestimmt zu nutzen, ein schöngeistigeres, stil- und würdevolleres Leben leben zu können; und Zeit zu haben für Erkenntnisse, sinnvolle Denk- und Schreibarbeit. Und was das Reisen betrifft, so beschleicht mich schon länger das Gefühl, dass dem Reisen in unseren verrückten Zeiten eine neue Rolle zukommt; im ganzen Wahnsinn der Digitalisierung habe ich das Gefühl, durch das Reisen wieder an echte, besondere Orte zu kommen, an denen die Zeit still zu stehen scheint (Lese hier meinen Artikel »Viareggio: Der italienische Strand als Zeitblase«). An Sehnsuchtsorte zu gelangen und ein Stück weit wieder zu mir selbst. Oder, wie Hodgkinson es formuliert: »Beim Reisen lässt sich wahre Freiheit erfahren, und man kann sich einem in Vergessenheit geratenen Zeitvertreib widmen: dem Nachdenken.«
Reisen mit der Eisenbahn
Dan Kierans erzählt, dass er selbst wegen seiner Flugangst zum »Slow Travelling« gekommen ist, seine bevorzugte Reiseart ist mit dem Zug. Er unternimmt abenteuerliche Reisen mit dem Zug, die meist, da er in England lebt, mit dem Eurostar nach Paris beginnen und von dort aus weite Strecken durch Europa nach Spanien oder Polen führen. So kommt es, dass bei ihm Geschäftsreisen auf den Kontinent auch gut und gerne mehrere Tage in Anspruch nehmen.
Das Reisen mit dem Zug macht dich a priori zu einem anderen Menschen als wenn Du mit dem Flieger unterwegs bist, sagt Kieran. Das beginnt schonmal mit dem anders gearteten Einsteigepunkt: »Wenn man eine Stadt im Zug und nicht im Flugzeug erreicht, verändert sich auch das Gefühl für das Reiseziel. Der Gare du Nord eröffnet einem einen Blick auf die Stadt, der dem der Einheimischen viel eher entspricht. Vielleicht mit raueren Ecken und Kanten, aber aufregend, nicht einschüchternd, und es ist viel leichter, sich unters Volk zu mischen und sich davonzumachen. (…) Ganz anders ist es beim Fliegen. Wenn man am Flughafen Charles du Gaulle landet, wird man sofort in eine Schublade gesteckt. Man wird mit Werbung, Broschüren und Angeboten bombardiert, die einen zum Touristen machen, ob es einem gefällt oder nicht. Ehe man sich’s versieht, wird man unbewusst auch wie ein Tourist denken.«
Das Reisen befreit das Denken
Glasklar und wahr sein Gedanke, dass die Orte und das Tempo, mit dem sich der Mensch bewegt, sein Denken beeinflussen. Bei mir beobachte ich das auch: sobald ich auf Reisen bin (zu Fuß, im Auto, im Flieger), merke ich sofort, dass mein Geist anfängt, freier zu denken (was bedeutet das im Rückschluss für die Büroarbeit? Dass der Mensch, den ganzen Tag gefesselt auf einem Bürostuhl, vor dem Rechner oder im Meeting, eher beschränkt denkt, das Gegenteil von frei).
Ein neues Zeitempfinden
Dans Zeitempfinden verändert sich durch seine Art des Reisens komplett: die Zeit, die er sich beim Reisen dadurch verschafft, dass er nicht in Eile ist, erhält eine neue Bedeutung für ihn und eröffnet ihm eine neue Wahrnehmung, neue Gedanken, eine neue Sprache (wieder ist im Umkehrschluss interessant, was wir im Alltag alles nicht erleben, weil wir ständig in Eile sind): »Als ich zu erkennen begann, welche Ausmaße die Landschaft hatte, die ich noch nie erkundet hatte, obwohl sie die ganze Zeit direkt vor meiner Nase lag, wurde mir klar, dass dasselbe auch für alle möglichen Begriffe gilt. Stellen Sie sich vor, wie viele Ideen und Vorstellungen von der Welt unser Verstand intuitiv erfassen könnte, die uns aber verschlossen bleiben, weil unsere eigene Sprache zu beschränkt ist (…). Einerseits bietet uns die Sprache einen vertrauten und bewährten Wegweiser für unsere bewusste Wahrnehmung der Welt, andererseits verhindert sie, dass wir unsere Umgebung neu erleben können, und versagt uns unzählige andere Möglichkeiten, das Leben zu betrachten und zu erfahren (Lies hier meinen Artikel »Writing is to create meaning«). Doch der müßige Reisende hat die Zeit, so etwas zu bemerken und darüber nachzudenken, weil er oder sie ausgetretene Pfade meidet – die naheliegenden Vorstellungen und Begriffe –, während diejenigen die die Welt in Eile konsumieren, sich auf das Bekannte und Zweckmäßige beschränken müssen.«
Her mit dem echten Leben
Teil der Idee vom »Slow Travel« ist bei Dan aber auch immer das Prinzip der Teilhabe – er möchte eintauchen in die bereisten Orte und ein möglichst echtes Bild erhalten; nicht in der Kunstblase verharren, die für die Touristen erschaffen wurde. Und das wiederum ist ein Bedürfnis, das einer ganzen Generation innewohnt, wie man am Erfolg von Airbnb sieht: hier gehöre ich dazu, statt aus dem Reiseführer bekomme ich von meinem Gastgeber einen sofortigen und direkten Einstieg in das echte Leben vor Ort (ja, ich weiß, an anderer Stelle können wir über die zunehmende Kommerzialisierung von Airbnb reden). Die Teilhabe versteht Dan Kieran aber auch inhaltlich – er saugt Wissen auf, er beschäftigt sich mit dem Ort und seiner Vergangenheit, taucht tief ein, nimmt sich immer ein Buch vor, das mit dem Ort in gewisser Weise in Verbindung steht. Und darum geht es ihm eben auch: in Verbindung mit dem Ort zu kommen, sich ganz auf ihn einzulassen. Und damit auch immer wieder in Verbindung zu sich selbst zu treten.
Eine universelle Denkweise
Es ist Dan Kierans Art zu Denken und sein Weltbild, die mir so unglaublich gut gefallen und in denen ich mich wiedererkenne: alles hängt mit allem zusammen, alles lässt sich auf alles übertragen, das, was im Äußeren geschieht, spiegelt sich im Inneren, und umgekehrt. Ich sehe darin eine universelle Denkweise, einen sehr holistischen, alten, humanistischen Gedanken, der uns in unserem Silo- und Schubladendenken fast abhanden gekommen ist und den zu denken man vor allem eines braucht: Zeit.
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